Die Welt ist eine Hutschachtel. Bert Neumann hat sie Frank Castorf auf die Bühne gestellt für sein Unternehmen, Walter Mehrings Großstadtpanorama und Sittengemälde des Berlins der Zwanzigerjahre mitten im ehemaligen Scheunenviertel, wo ein Teil des Stücks spielt, neues Leben einzuhauchen. Groß und rot-weiß gestreift steht sie dort und versucht, diesem grellen und unbändigen Porträt einer Gesellschaft am Abgrund, einer Welt in Auflösung, einen Rahmen, ein Bild zu geben.
Die Hutschachtel ist Schauplatz des sich entfaltenden Weltpanorama am Beispiel Berlins, des "Nabels der Welt" in jener Zeit. Ein in die Seite eingelassenes Zugabteil, ein Grunewaldpanorama auf der Rückwand, Übertragungen per Leiwand aus dem Schachtelinneren, quergespannte Stoffbahnen, die mal das Scheunenviertel darstellen, mal ein Interieur bilden: Die Riesenschachtel ist Kulminations- und Katalysationspunkt, Schauplatz und Mittelpunkt alles Geschehens. Symbol wahrscheinlich auch, aber das erschließt die Inszenierung nicht.
Mehrings Großstadt-Sittengemälde ist eigentlich der ideale Stoff für den großen Eklektiker und Themenverrührer Castorf. Das Stück, das 1929 zu wilden Protesten und einer Verdammung durch Goebbels führte und dem Philosemitismus ebenso vorgeworfen wurde wie Antisemitismus, ist eine Ansammlung unterschiedlichster Gestalten, Themen, Episoden, ein Gemisch, das vom Fragmentarischen ebenso lebt wie von Nichtakzeptieren theatralischer Grenzen. Auch Castorfs Inszenierungen erinnern stets an Eintöpfe: Er wirft unterschiedlichste Zutaten zusammen, kocht sie miteinander und hofft, dass ihr Ergebnis mehr ist, als die Summe seiner Zutaten, dass die Vermischung einen Mehrwert ergibt.
Hier jedoch ist der Castorfsche Eintopf vollkommen ungenießbar, ja, man sollte ihn gar einer toxikologischen Untersuchung unterziehen. Das beginnt schon gleich am Anfang: Eine Gruppe Juden reist aus dem Osten nach Berlin, voller Hoffnungen und Pläne, aber auch Ängste. Da wird in Pseudo-Jiddisch parliert, meist brüllend, grotesk überzeichnet agiert, die Juden tragen Klischee-Kleidung und-Bärte und benehmen sich, wie es dumpfe Juden-Klischees vormachen. Vielleicht will Castorf die Klischees, die Vorurteile vorführen, ber er zerstört in dem Versuch die Integrität der Figuren. Sie werden zu lächerlichen Gestalten, die genau den Klischees entsprechen, die Castorf möglicherweise bloßstellen will.
Und so geht es weiter. Die Figurenzeichnung bleibt bestenfalls holzschnittartig, erreciht aber meist nicht einmal diese Subtilität. Die vielfältigen Themen: schwarze Reichswehr, Antisemitismus, Rathenau-Attentat, Versailler Vertrag und vieles mehr, werden deklamiert, hinterlassen im allgemeinen Gebrüll aber keinerlei Nachhall. Alles bleibt separat, nichts verbindet sich zu dem Panorama, das Mehring und vielleicht auch Castorf vorschwebte. Castorf erlaubt dem Publikum kaum zu folgen, es mag aber auch nicht viel verpassen.
Einzig Bärbel Bolle darf als sehnsuchtsvolle Generalsgattin kurz berühren, ansonsten verpufft das großartige Ensemble (das - vor allem Dieter Mann - mit erheblichen Texthängern kämpft) vollständig.Allen voran Sophie Rois in der Titelrolle, die sich aus der anfänglichen Karikierung nie befreien kann und deren Kaftean immer Abzieh- oder gar Zerrbild bleibt. Erkenntnisgewinn null, Mitgefühl noch weniger - dieser Kaftan ist weder Täter noch Opfer, sondern eine von vielen austauschbaren Knallchargen der Inszenierung.
Vermochte es Castorf früher, wie ein Alchemist aus unterschiedlichsten Bestandteilen Gold zu erzeugen, erzeugt er hier das Nichts. Aber auch das ist durchaus eine erstaunliche Leistung.
December 15, 2010
Walter Mehring: Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne am Rosa-Lxemburg-Platz, Berlin (Regie: Frank Castorf)
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