Eine Frau, deren zwei Kinder gestorben sind, ein Verdacht, eine Verurteilung, ein Freispruch in der Revision, ein umstrittener Psychiater und eine zerbrochene Familie: Das ist der Stoff, aus dem Dennis Kellys 2007 in London uraufgeführtes Stück ist. Und doch geht es um anderes: Um nichts weniger als die Wahrheit, ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit und die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt. Oder besser: ob es die eine Wahrheit, einer der Grundfesten mesnschlichen Denkens und wohl auch Zusammenlebens überhaupt geben kann.
Kelly hat das Stück im Stile des dokumentarischen Theaters geschaffen. Wir hören O-Töne der Protagonisten, aufgezeichnet in Interviews und Briefen und auf die Bühne gebracht. Nichts sei geändert worden, so das Verdikt des Autors zu Beginn. Die Figuren bekommen Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen,ihre Wahrheiten zu verkünden. Und ihre Stories sind in sich geschlossen und glaubwürdig. Kelly vergibt keine Sympathien oder versucht dies zumindest. bErsstellt diese Wahrheiten vor, statt sie zu bewerten. Am Ende entsteht ein polyphones Konzert sich widersprechender Wahrheiten, ohne dass ihre Wertigkeit unterschiedlich gewichtet wäre.
Und nicht nur das: Auch das Theater steigt in den Prozess des Hinterfragens von wahr- und Gewissheiten mit ein. Denn natürlich ist dies keine wahre Geschichte, sondern komplette Fiktion, auch wenn sie von tatsächlichen Fällen inspiriert ist. Doch: Die Interviews, die hier inszeniert werden, haben nie stattgefunden. Ein hochinteressantes und komplexes Stück.
Sascha Hawemann hingegen, Regisseur der deutschen Erstaufführung, macht es sich viel einfacher. Was bei Kelly ein Labyrinth persönlicher Wahrheiten ist, wird hier zum simplen, ja plumpen Gegensatz von Wahrheit und Lüge. Hawemann vergibt Sympathien, er macht klar, wer recht hat, welche Geschichte stimmt, er wertet, wo Kelly nur zeigt. Er bewertet die Wahrheiten und stellt damit die Gewissheit wieder her, die Kelly ja auflöst: dass es so etwas wie eine gültige Wahrheit geben kann. Und so wird Kellys Stück zur einfachen Parabelvon Wahrheit und Lüge, die nichts hinterfragt. Auch nicht die Rolle des Theaters. So wird der Autor zur Figur und das Ganze seines Kerns bereaubt. Was bleibt, ist ein großartiges Ensemble (Meike Droste, Moritz Grove, Michael Schweighöfer, um nur die herausragenden zu nennen) und die Erkenntnis, das Potenzial des Stücks verchenkt zu haben.
April 24, 2010
Dennis Kelly: Taking Care of Baby, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regisseur: Sascha Hawemann)
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