Ein Wellblechcontainer, darin 15 Menschen (fast) jeden Alters. In Unterwäsche, "Ballonseide". Im Fernsehen läuft ein Shoppingsender. Unterschicht, Prekariat. Sie sehen fern, machen sich zurecht, langweilen, beschimpfen, streiten sich. Die Aufführung beginnt fließend, ohne merklichen Unterschied zwischendem Eintritt der Zuschauer und dem "eigentlichen" Beginn. Wir platzen hinein in das Leben dieser Menschen und werden sie fast zwei Stunen lang begaffen. Fast wie bei Big Brother. Dürfen wir hier sein, dürfen wir das sehen?
Es ist eine voyeuristische Situation, in die uns Karin Beier bringt. Wir schauen durch das Fenster Menschen beim Leben zu. Es ist ein trostloses Leben, Menschen, die einander wehtun, unfähig oder unwillig zu kommunizieren, ein brutaler, alles unterdrückender Patriarch, hoffnungslose, resignierte Menschen, abgestumpft die meisten, hilflos die anderen.
Mitleidlos war der Blick, en Ettore Scola in seinem Film von 1976 auf das römische Subproletariat warf und mitleidlos ist auch diese Anordnung. Und gerade das macht sie so stark: Der Zuschauer kann sich nicht verstecken hinter Mitleid, sozialen Erklärungsmustern, solidarischer Verbrüderung mit den Geknechteten. Er muss zusehen mit mehr als einem unwohlen Gefühl. Da ist Erschrecken, aber auch Abscheu, Verachtung, aber auch Schuld. Und der Verdacht, das nicht sehen zu dürfen. Der Zuschauer als Voyeur, als Mitwisser. Das zwingt zum Hinsehen, zum Hinterfragen von Gewissheiten, Vorurteilen, Pauschalisierungen. Hartes, ehrliches Gesellschaftstheater ohne jede Art von Betroffenheitskitsch.
Und das obwohl sich Beier kurze Brüche erlaubt: der Tschechow lesende und zu Patti Smith tanzende Transvestit, die begehrt sein wollende Alte, das von niemandem beachtete Mädchen mit dem Plüschmeerschwein, die choreogrfierten Szenen der Verzweiflung, des Sehnens und der Gier. Sie lassen das Elend, das materielle wie das mentale, nur um so stärker heraustreten.
Aber was wird hier eigentlich gezeigt: die Realität, wie sie ist? Oder ist es nicht ehere eine Anordnung aller Klischees über die "Unterschicht"? Eine Projektion unserer Vorstellungen und Vorurteile, eine Reflexion eher über unsere Wahrnehmung dieser Menschen, als eine Darstellung dieser selbst? Auch das ist bei Scola angelegt: Attackiert dieser die romantisierende Darstellung der edlen Armen, die seit dem Neorealismus das italienische Autorenkino beherrscht hat, bringt Beier hier alle Klischees zusammen, von denen wir glauben, das sie auf das Prekariat zutreffen. Auc dies ist eine Abrechnung mit vorherrschenden Erklärungsmustern, wie schon bei Scola.
Doch das kleine Theaterwunder, das diese Inszenierung ist, endet nicht hier: Obwohl die Figuren zwei Stunden fast ununterbrochen reden, bekommt der Zuschauer kaum etwas zu hören. Die Fenster sind schalldicht, nur wenn jemand brüllt, dringt ein leiser Rest nach außen. Oder ein dumpfes Grollen schwerer Fußschritte. Das alles verstärkt den Eindruck des verbotenen Zuschauens.
Es erreicht aber noch etwas anderes: Es verändert die Wahrnehmung des Publikums. Es hört mit den Augen. Gesten, Bewegungen, Blicke, unsichtbare Worte erzählen das nicht Gehörte, der Blick ändert sich. Jedes Geräusch, Wortfetzen bei offener Tür beispielsweise oder das in die Wanne laufende Wasser gewinnen eine überproportionale Bedeutung. Die Stille schärft die Sinne des Zuschauers, der plötzlich auf Details achtet, die er sonst übersehen hätte.
Und auch das Publikum selbst, ohnehin in einer zwiespältigen Rolle, tritt ins Geschehen. Jedes Husten, jedes Lachen, jede Fuß- oder Stuhlbewegung hallt durch den stillen Raum und wird Teil des Erlebens. Die Voyeure machen sich bemerkbar. Die Illusion unbemerkt und unbeteiligt zuzusehen, lässt sich nicht aufrechterhalten.
Karin Beier ist mit dieser bemerkensweten Inszenierung etwas gelungen, was Kritiker wie Theaterbesucher so häufig fordern: Theater, das die Augen öffnet. Und das im Wortsinn.
May 20, 2010
Theatertreffen 2010 - Ettore Scola, Ruggero Maccari: Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen, Schauspiel Köln (Regie: Karin Beier)
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