September 25, 2010

Nach Moskau! Nach Moskau! nach Tschechows "Drei Schwestern" und der Erzählung "Die Bauern", Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Frank Castorf)

Es gibt Momente in diesen knapp vier Stunden, da will man aufspringen und die Wiedergeburt der Castorfschen Volksbühne proklamieren. Wenn Thschechows Drei Schwestern, spätestens seit Peter Stein der Inbegriff des psychologisierenden Einfühlungsdramas zum hochkomischen hysterischen Schreiduell wird, zur perfekten Slapstick-Choreografie, wenn die allesamt völlig überzogenen und doch vollkommen individuellen Figuren ebenso mühelos zu einem faszinierenden Ganzen werden, wenn gesellschaftspolitische Texte und Heiner-Müller-Zitate unaufdringlich ihren Weg auf die Bühne finden,wenn die völlig unaufdringliche Einfügung des Live-Videos zusätzliche Perspektiven eröffnet - wie es auch die Inszenierung selbst tut, die Tschechows populäres Drama mit seiner deutlich düsteren und auch unbekannteren Erzählung Die Bauern verknüpft.

Beides sind Geschichten Ausgegrenzter, Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, weit weg von ihrer Mitte, weit entfernt davon, Bedeutung zu haben. Auf der einen Seite, die vaterlose Generalsfamilie mit gesellschaftlichen Ambitionen, aber versauernd in der Provinz. Auf der anderen das untere Ende der Gesellschaft, gescheitert in Hauptstadt und gestrandet auf dem Lande. Sie teilen ihr Sehnsuchtsziel: Moskau! Moskau heißt, mittendrin zu sein, teilzuhaben, zu leben.

Es ist eine nachvollziehbare und kluge Gegenüberstellung, die Castorf versucht. Auf der rechten Seite der Bühne die Veranda des Landadels, auf der Linken die Bruchbude der Unterschicht. Hinter ihnen eine riesige Fototapete, einen Wald darstellend, das ländliche Gefängnis, aus dem beide Gruppen ausbrechen wollen. Doch selbst als die Tapete fällt, offenbart sie nicht die Freiheit, nicht die bessere Zukunft, sondern nur Leere. Es sind letztlich Scheinleben, die hier geführt werden, die im Verlauf des Abends politischer werdenden Zukunftsdebatten bleiben Theorie, Als den Protagonisten der Bauern ihr Samowar weggenommen wird, versucht die alte Babka, einen Protest anzuzetteln. Doch nein, eine Revolution will hier keiner.

So zwingend das klingt und sich zunächst auch anlässt, so wenig gelingt es Castorf und seinem Ensemble, bestehend aus nicht wenigen alten Mitstreitern - hervorzuheben sind hier vielleicht Jeannette Spassovas hysterisch-melancholisch-verzweifelt-herrische Mascha, Kathrin Angerers proletenhafte Natalja, Milan Peschels hilflos-verbockter Werschinin, Lars Rudolphs verletzlich-unsicherer Baron und Sir Henrys imposante Kulygin-Karikatur - dies über vier Stunden durchzuhalten.

So können die Drei Schwestern nie aus ihrem anfänglichen Slapstick ausbrechen. Die stilleren, verzweifelteren Töne werden weggewischt, für sie ist kein Platz im cholerischen Dauergebrüll. Und auch die Balance zwischen den beiden Textquellen stimmt nicht. Die Bauern sind letztlich nicht viel mehr als ein Kommentar, ein Anhängsel, kein ebenbürtiges Pendant. Und so landet am Ende doch wieder alles bei den Drei Schwestern, an diesem Abend, der die vielschichtige Virtuosität des Beginns nicht halten kann und über weite Pasagen doch zu eindimensional und plakativ bleibt. Ein guter Saisonauftakt, in dem jedoch noch deutlich mehr gesteckt hätte.

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