December 22, 2010

Dirk Laucke: Bakunin auf dem Rücksitz, Deutsches Theater / Kammerspiele, Berlin (Regie: Sabine Auf der Heyde)

Jörg ist tot. Ein Opfer der Gentrifizierung. Als er seine Wohnung räumen sollte, um Platz zu machen für die Errichtung eines Carlofts, hat er den Gashahn aufgedreht. Überlebt hat sein Hund Bakuni, den der Immobilienspekulant und Hauseigentümer kurzterhand mitnimmt. Alles klar. Gut und böse sind klar verteilt und eindeutig durchdefiniert. Hier die Alteingesessenen, dort die Spekulanten, die ersge aus reiner Profitgier vertreiben wollen.

Es ist Dirk Lauckes - gerade 28 Jahre alt und schon einer der Stars der deutschsprachigen Dramatikerszene - Verdienst, dass er das nicht so stehen lässt. Immobilienhai Steven ist gar nicht so unsympathisch, seine Geliebte, die Politikerin Charlotte Pragmatikerin, aber beileibe nicht ohne Werte, Kneipenbesitzerin Moni dagegen die intoleranteste Figur des Stückes und Jung-Punk Jan ein phrasendreschendes Muttersöhnchen. Es mag banal klingen, aber wenn aus Klischees reale Personen werden, vermischen sich schwarz und weiß ganz schnell zu vielen vielen Grauschattierungen. Und so brechen zwischen Steven und Charlotte bald ebenso Meinungsverschiedenheiten auf wie zwischen Moni und Pflegerin Eddi, die ja eigentlich auf der gleichen Seite stehen.

Und dazwischen - Bakunin. Der Hund ist Beobachter, Erzähler, wenn ötig auch Gesprächspartner und vor allem Analytiker mit Verständnis für beide Seiten. Mathias Neukirch spielt ihnzwischen hechelndem Köter und abgebrühtem Revolutionstheoretiker, vielleicht der einzig Außenstehende, dessen Blick nicht am Tellerrand kleben bleibt, weil er keinen hat. Laucke nennt ihn im Programmheft eine Art Spielleiter und hat sicher Recht. Bakunin ist Impulsgeber und Kommentator, Mittler und Katalysator, Auslöser, Mittelpunkt und Ziel von Handlungen - und doch steht er außen, als Instanz, die das Geschehen immer wieder ironisch brincht, die kleine Geschichte in das große Ganze ausbreitet und wieder in sich zusammenfallen lässt. Wenn sich Laucke hier jedem Gut-Böse-Schema, jedem Schwarz-Weiß verweigert, dann ist di Bakunin die Verkörperung dessen.

Dass dies hier kein naturalistisches Sozialdrama ist, macht auch Sabine Auf der Heyde von Beginn an klar. Die Kulisse wird comicartig gezeichnet und auf die Rückwand projiziert, am Ende gibt es sogar Schlusstitel, der Comiccharakter find3et sich auch im Spiel wieder. Die Figuren wahren eine fragile Balance zwischen Glaubwürdigkeit und Typisierung, sie sind ebenso Klischees wie sie dreidimensionale Individuen zumindest andeuten. Leichtfüßig springen Regie und Darsteller zwischen Ernst und Komik. In einem Moment realistisches Spiel folgt im nächsten karikaturhafte Überzeischnung.

Wie Laucke die "Moral von der Geschicht'" in der Schwebe lässt, tut das auch die Inszenierung. Ironische Distanz ist nie weit und doch ist der Zuschauer auch immer bei den Figuren. Offenheit ist das Grundprinzip von Stück und Inszenierung, natürlich kippt die Sypathie ein wenig in die eine Richtung, aber nie soweit, dass sich der Zuschauer bequem in unfehlbarer Gewissheit zurücklehnen kann. Immer bleibt ein Rest in dieser ebenso kurzweiligen und unterhaltsamen wie intelligenten Inszenierung.

December 20, 2010

Arthur Miller: Alle meine Söhne, Deutsches Theater / Kammerspiele, Berlin (Regie: Roger Vontobel)

Er ist der neue Stern am deutschen Regiehimmel: Roger Vontobel. Nachwuchsregisseur des Jahres war er schon, gerade wurde sein Dresdner Don Carlos mit dem Faust-Theaterpreis für die beste Inszenierung des Jahres ausgezeichnet. Nun durfte er sein Debüt am Deutschen Theater geben, immer noch so etwas wie ein kleiner Ritteschlag für Theaterregisseure. Ausgesucht hat er sich diesmal keinen Klassiker und auch keinen antiken Stoff.

Arthur Miller soll es sein, auch noch sein selten gespieltes Alle meine Söhne, Millers erster Broadway-Erfolg, aber schon seit langem im Schatten ungleich bekannterer und populärerer Werke wie des unvermeidlichen Tod eines Handlungsreisenden. Wie so oft ebei Miller eine Familiengeschichte mit vielen Leichen im Keller, gespickt mit einem Schuss Sozialdrama, erzählt das Stück die Geschichte der Familie Keller, deren Oberhaupt einst verantwortlich war für die Lieferung fehlerhafter Bauteile für die Air Force, als deren Resultat mehrere Flieger abstürzten und eine Reihe von Soldaten umkamen. Keller kam gut durch die Sache, sein damaliger Partner wurde verurteilt. Aber die Schatten der Vergangenheit kommen zurück und verrichten ihr zerstörerisches Werk. Alle meine Söhne ist mit seinem streckenweise recht platten Moralismus, seinen nicht gerade subtilen Wendungen und seiner recht einfach gestrickten Botschaft der Amoralität des Geldverdienens am Krieg nicht gerade Millers stärkstes Stück. Was anderswo bei Miller so schmerzhaft hervorbricht, gerade weil es nur angedeutet bleibt, hier malt er alles mit recht dickem Pinselstrich.

Vontobel reduziert das Stück bewusst zum  Familiendrama. Die Außenwelt ist präsent, hat Einfluss, aber die wirklichen Konflikte, die verschwiegene wie die sich andeutende Tragödie passieren in der Familie, gehen von ihr aus und führen in sie zurück. So reduziert Vontobel die Außenwelt auf eine Figur, die er auch hätte getrost weglassen können. Was ihn interessiert, ist die Dynamik einer familiären Eskalation und so reduziert ist das äußerst stringent und überzeugend.

Vontobel hat sich von Claudia Rohner die Kammerspiele in eine Arena umbauen lassen. Umringt von Publikum entfaltet sich das Drama auf einem Rechteck Rollrasen. Beim Einzug des Publikums spielen Kinder, ein Familienidyll, von dem wir bald erfahren, dass es längst verloren ist. Ein Sohn ist tot, sein Tod verleugnet von der Mutter, der Vater wieder im Geschäft, sein ehemaliger Partner im Gefängnis. Die spielenden Kinder, das Ausrollen des Rasens durch die Kinder gemeinsam mit ihren älteren Egos - Vontobel gelingt ein überaus stimmungsvoller, atmosphärischer Auftakt, der eine Leichtigkeit verströmt, wie sie der behaupteten Idylle entspricht.

Langsam, subtil brechen die Gespenseter der Vergangenheit hervor, kratzen zunächst an der glitzernden Oberfläche familiärer Harmonie und Wärme, der Wiedersehensfreude auch mit der Verlobten des verschollenen Sohnes, die jetzt der zweite Sohn heiraten will. Vontobel gelingen wunderbare Szenen, etwa wenn Chris und Annie zaghaft auf und ablaufen und nach ihrem hingedrucksten Liebesgeständnis immer ausgelassener herumtollen, unter Einbeziehung des Rasensprengers. Hier ist sie nochmal kurz, die unbefangene Freude der Kinder vonm Anfang.

Lange nicht mehr wurde ein so simples und gleichzeitig wirkungsvolles Bühnenbild in diesen Raum gezaubert. Das Rasenviereck steht am Anfang für Freiheit, Lebensfreude, Unbekümmertheit. Der Raum ist weit, die Weltin Sonne getaucht. Später wird es immer enger, ohne sich physisch zu verändern. Immer wieder eilen einzelne Figuren wie gehetzt um das Viereck herum, reden, schreien auf die Figuren im Rechteck ein, das zunehmend zum Gefängnis wird, in dem die Protagonisten eingeholt und eingesperrt werden von all dem Verdrängte, das sich da Bahn bricht. Wir Vontobel mit seinem Ensemble, einer behutsamen Lichtregie und einer nie aufdringlichen musikalischen Untermalung diesen Wandel gestaltet, ist zwingend und von atmosphärisch dichter Intensität.

Vontobel gibt dabei den Figuren und ihren Darstellern Raum, sie sind plastischer, vielschichtiger als von Miller angelegt. Ulrike Krumbiegels Mutter Kate wechselt zwischen hysterischem Schmerz und agressiver Härte, Meike Droste als Annie zwischen zweifelnder Ängstlichkeit und in sich ruhender Selbsterkenntnis, Daniel Hoevels Chris schwankt zunächst zwischen Hoffnung und Hilflosigkeit und gewinnt seine Stärke im Zusammenbruch aller Gewissheiten. Selbst Jörg Pose als Joe Keller ist weit mehr als der Schurke des Stücks. Sein Verbrechen geschieht aus einer Mischung aus Pragmatismus und Verteidigung der aufgebauten Fassade. Die Überzeugung, so handeln zu müssen, nimmt ihm der Zuschauer ihm ebenso ab wie die zaghaften und rfast hilflosen Versuche, die Wunden, die das eigene Handeln geschlagen hat, zumindest zu verdecken, wenn er sie schon nicht heilen kann.

Es ist ein redzierter, ganz ins Private gekehrter Miller, der die auch durch das Programmheft genährte Erwartung, eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Dbatte über die Zulässigkeit und die Grenzen von Gier, über die Moralität des Geldverdienens bewusst verweigert und dem Zuschauer überlässt. Vontobel erzählt eine Familiengeschichte, auf durchaus konservative Weise, aber gerade dadurch öffnet er den Assoziations- und Imaginationsraum so weit, wie es nur das Theater vermag.

December 19, 2010

Alina Bronsky: Scherbenpark, Deutsches Theater / Box (Junges DT), Berlin (Regie: Annette Kuß)

2008 veröffentlichte Alina Bronsky ihren Debütroman Scherbenpark über das Schicksal einer 17-jährigen Russlanddeutschen. Im Rahmen des Jungen DT hat Regisseurin Annette Kuß das für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2009 nominierte Werk jetzt gemeinsam mit russlanddeutschen Jugendlichen in der Box des Deutschen Theaters auf die Bühne gebracht.

Die trostlose Hochhaussiedlung in der die 17-jährige Sascha seit dem Mord an ihrer Mutter mit den jüngeren Geschwistern und einer Tante lebt, ist omnipräsent. Auf der hinteren Videoleinwand ebenso wie im kahlen, skelettartigen, an Betonkonstruktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre erinnernden Bühnenbild. Auch hier gibt es mehrere Leinwände, auf denen Verbrecherfotos des Steifvaters und Mörders ebenso gezeigt werden wie Familienbilder und -videos. Dieses Spannungsfeld zwischen Nähe, Wärme, Familie und der Sehnsucht danach sowi Gewalt, Wut, Hass und Perspektivlosigkeit bestimmt das Stück. Es ist das Verdienst der Inszenierung, dass sie die Balance hält.

Spielszenen wechseln sich ab mit Monologen, vor allem der gleich dreifach besetzten Sascha, deren unterschiedliche Facetten zunächst um Vorherrschaft streiten, auf ganz physische Weise, bevor sie imVerlauf des Abends immer mehr zueinander finden, so wie auch Sascha zu sich findet. In Einschüben erzählen die Darsteller aus ihren eigenen Lebensgeschichten und runden so das doch recht düstere Bild ab, das der Roman malt, relativieren es auch. Denn es kommt alles vor, was das klischee hergibt: Jede Menge Gewalt, gelangweilte Jugendliche, die ihren Frust in Alkohol ertränken und ihre Männlichkeit in Gewaltorgien und Vergewaltigungen beweisen, Ausbruchsfantasien, häusliche Misshandlungen, Perspektivlosigkeit.

Und doch ertrinkt das stück nicht im Elend, denn behutsam scheinen auch Träume hervor, bringen vor allem die Jugendlichen ein gehöriges Maß Lebensfreude und energie in die düstere Landschaft. Es ist ja auch eine Coming-of-Age-geschichte, in der Sascha, die Gebildete, den anderen "Russen" sich überlegen fühlende, aber auch in Hass - vor allem auf den Stiefvater, die Projektionsfläche ihrer Wut auf de Weld - Versinkende sich ins Leben tastet, mal erfolgreich, mal scheiternd.

Vor allem die Zweischneidigkeit von Sex - Ausdrück der Sehnsucht nach Nähe ebenso wie Instrument der Gewalt - ist eindringlich inszeniert. Wenn Sascha mit dem Sohn eines Journalisten, bei dem sie Unterschlupf gefunden hat, schläft, wird das als Kissenschlacht inszeniert. Die Vergewaltigung durch einen anderen russlanddeutschen Jugendlichen besteht darin, dass sie weggetragen und reglos im Betongerüst abgelegt wird.

Wie in einer antiken Tragödie scheint die Tragödie unvermeidlich. Und so steuert Sascha auf die Eskalation zu, die sich - natürlich, möchte man meinen - als Gewaltorgie entpuppt und die zur kathartischen Reinigung führt. Nicht jedoch wie in der Antike nur beim Publikum, sondern bei der Hauptfigur selbst. Und so blüht am Ende ein sanftes Pflänzchen der Hoffnung, keine Gewissheit, das alles gut wird, aber doch die Möglichkeit, dass manches gut werden kann. Ein starkes Stück Jugendtheater, wenn nicht gar mehr.

Aki Kaurismäki: Der Mann ohne Vergangenheit, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Dimiter Gotscheff)

Es wird ja oft genug darüber geschrieben und nicht selten auch lamentiert: Immer häufiger finden Stoffe ihren Weg auf die Bühne, die aus anderen Kunsgattungen als dem Drama stammen. Romanadaptionen finden sich heute an praktisch jeder deutschen Bühne und auch Film erfreuen sich zunehmender Beliebtheit bei Regisseuren. Dimiter Gotscheff ist dabei so etwas wie ein Vorreiter: Nach seinem godard-Abend Die Chinesin an der Volksbühne stellt er nun schon sein zweite Filmbearbeitung dieser Spielzeit vor: Der Mann ohne Vergangenheit des großen finnischen Melancholikers Aki Kaurismäki.

Nun gibt es aber einen Grund, warum der Roman viel häufiger im Theater adaptiert wid als der Film. Film und Thater stehen sich viel näher als Theater und Roman, arbeiten sie doch mit einer Reihe der gleichen Ausdruckselemente: Die Verbindung als Bild und Text, Darstellung und zeitlich gebundener Erzählung, auch das Element des Schauspiels finden sich in beiden Gattungen. Schafft die Transponierung eines geschriebenen Textes auf die Bühne bereits automatisch etwas Neues, ist das bei Filmstoffen viel schwieriger zu bewerkstellen, sollen sie mehr sein als eine bloße Nachstellung der Vorlage.

Es gilt also, dem Stoff etwas Neues abzugewinnen, zusätzliche thematische Aspekte, eine andere Interpretation oder schlicht eine neue Erzählweise. Gotscheff hat das bei seinem Godard-Abend versucht, in dem er den Film als Ausgangspunkt einer collagenhaften Auseinandersetzung mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Themen und generell der Möglichkeit, Unmöglichkeit und Sinnhaftigkeit revolutionären Handels genommen hat.

Bei Kaurimäkis Stoff fiel ihm leider nur wenig ein. So kippt er die Geschichte ins Komische. Wo Kaurismäki auf die stille Ironie der nicht selten absurden menschlichen Existenz setzt findet Gotscheff brachialere Komik bis hin zu Slapstickhaften. Das funktioniert teilweise ganz gut, etwa wenn die Figuren saunieren, ihre die Saunen andeutenden Stofftaschen öffnen und erst einmal Dampfwolken über die Bühne wabern. Andere Male jedoch kollidiert der simple Slapstick ungebremst mit der stoischen Lakonik Wolfram Kochs und bringt beide zu Fall.

Ohnehin krankt der Abend an seiner Uneinheitlichkeit. Während Koch ganz nah an Markku Peltolas stoischer Lakonik bleibt, lädt Almut Zilcher ihre Irma mit einer viel zu lauten, überdeutlichen, fast agressiven Nervosität auf, die jegliche Annäherung beider Protagonisten zur bloßen Behauptung verkümmern lässt. hat Katrin Brack eine Bühne gebaut, die gewollt antinaturalistisch ist und den Containerpark mit den bereits erwähnten bunten Riesenstofftaschen ersetzt, erzählt Gotscheff die Geschichte streng chronologisch herunter. Wo die Bühne also die Emanzipation von der Filmvorlage sucht, biedert sich der Erzählstil jener wiederum an. Zudem geraten Gotscheff die Figuren, zu holzschnittartig eindimensional, was zum Slapstickhaften passt, die für Kaurismäki charakteristische Mischung aus Melancholie und leider, verschämter Hoffnung, die vor allem Koch verkörpert, über weite Strecken erstickt.

Zudem trägt Gotscheff dick auf, wo Kaurismäki nur andeutet. Immer wieder eingeschobene Bibelzitate und kirchliche Gesänge sollen wohl Irmas Rolle als Heilsarmistin betonen, vor allem aber den Aspekt einer Wiederauferstehung, der sich auch bei Kaurismäki findet. Gotscheff tut beides mit dem Holzhammer und nimmt ihm dadurch viel von seiner Wirkung.

Und so plätschert der viel zu lange Abend dahin, bietet ein paar schöne Tableaus, etwa, wenn Irma und der namenlose Protagonist nebeneinadnersitzen, zaghaft Zukunftspläne entwickelt und die anderen Figuren es ihnen nachtun, jeder für sich. Das sind jedoch nur Momente, bevor das Stück wieder auseinanderbricht und träge dahinkriecht, ohne roten Faden und ohne die Frage zu beantworten, warum diese Inszenierung überhaupt entstanden ist. Und so ist auch das Schlussbild, bei dem Irma und der sich seiner Identität wieder bewusste Protagonist nebeineinander sitzen und in die (gemeinsame?) Zukunft schauen, ein passendes Bild für den gesamten Abend. Lädt Kaurismäki dies noch auf mit Sehnsucht und Hoffnung, tut sich bei Gotscheff gar nichts. Da sitzen die beiden einfach nur nebeneinander. Sonst nichts.

December 15, 2010

Walter Mehring: Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne am Rosa-Lxemburg-Platz, Berlin (Regie: Frank Castorf)

Die Welt ist eine Hutschachtel. Bert Neumann hat sie Frank Castorf auf die Bühne gestellt für sein Unternehmen, Walter Mehrings Großstadtpanorama und Sittengemälde des Berlins der Zwanzigerjahre mitten im ehemaligen Scheunenviertel, wo ein Teil des Stücks spielt, neues Leben einzuhauchen. Groß und rot-weiß gestreift steht sie dort und versucht, diesem grellen und unbändigen Porträt einer Gesellschaft am Abgrund, einer Welt in Auflösung, einen Rahmen, ein Bild zu geben.

Die Hutschachtel ist Schauplatz des sich entfaltenden Weltpanorama am Beispiel Berlins, des "Nabels der Welt" in jener Zeit. Ein in die Seite eingelassenes Zugabteil, ein Grunewaldpanorama auf der Rückwand, Übertragungen per Leiwand aus dem Schachtelinneren, quergespannte Stoffbahnen, die mal das Scheunenviertel darstellen, mal ein Interieur bilden: Die Riesenschachtel ist Kulminations- und Katalysationspunkt, Schauplatz und Mittelpunkt alles Geschehens. Symbol wahrscheinlich auch, aber das erschließt die Inszenierung nicht.

Mehrings Großstadt-Sittengemälde ist eigentlich der ideale Stoff für den großen Eklektiker und Themenverrührer Castorf. Das Stück, das 1929 zu wilden Protesten und einer Verdammung durch Goebbels führte und dem Philosemitismus ebenso vorgeworfen wurde wie Antisemitismus, ist eine Ansammlung unterschiedlichster Gestalten, Themen, Episoden, ein Gemisch, das vom Fragmentarischen ebenso lebt wie von Nichtakzeptieren theatralischer Grenzen. Auch Castorfs Inszenierungen erinnern stets an Eintöpfe: Er wirft unterschiedlichste Zutaten zusammen, kocht sie miteinander und hofft, dass ihr Ergebnis mehr ist, als die Summe seiner Zutaten, dass die Vermischung einen Mehrwert ergibt.

Hier jedoch ist der Castorfsche Eintopf vollkommen ungenießbar, ja, man sollte ihn gar einer toxikologischen Untersuchung unterziehen. Das beginnt schon gleich am Anfang: Eine Gruppe Juden reist aus dem Osten nach Berlin, voller Hoffnungen und Pläne, aber auch Ängste. Da wird in Pseudo-Jiddisch parliert, meist brüllend, grotesk überzeichnet agiert, die Juden tragen Klischee-Kleidung und-Bärte und benehmen sich, wie es dumpfe Juden-Klischees vormachen. Vielleicht will Castorf die Klischees, die Vorurteile vorführen, ber er zerstört in dem Versuch die Integrität der Figuren. Sie werden zu lächerlichen Gestalten, die genau den Klischees entsprechen, die Castorf möglicherweise bloßstellen will.

Und so geht es weiter. Die Figurenzeichnung bleibt bestenfalls holzschnittartig, erreciht aber meist nicht einmal diese Subtilität. Die vielfältigen Themen: schwarze Reichswehr, Antisemitismus, Rathenau-Attentat, Versailler Vertrag und vieles mehr, werden deklamiert, hinterlassen im allgemeinen Gebrüll aber keinerlei Nachhall. Alles bleibt separat, nichts verbindet sich zu dem Panorama, das Mehring und vielleicht auch Castorf vorschwebte. Castorf erlaubt dem Publikum kaum zu folgen, es mag aber auch nicht viel verpassen.

Einzig Bärbel Bolle darf als sehnsuchtsvolle Generalsgattin kurz berühren, ansonsten verpufft das großartige Ensemble (das - vor allem Dieter Mann - mit erheblichen Texthängern kämpft) vollständig.Allen voran Sophie Rois in der Titelrolle, die sich aus der anfänglichen Karikierung nie befreien kann und deren Kaftean immer Abzieh- oder gar Zerrbild bleibt. Erkenntnisgewinn null, Mitgefühl noch weniger - dieser Kaftan ist weder Täter noch Opfer, sondern eine von vielen austauschbaren Knallchargen der Inszenierung. 

Vermochte es Castorf früher, wie ein Alchemist aus unterschiedlichsten Bestandteilen Gold zu erzeugen, erzeugt er hier das Nichts. Aber auch das ist durchaus eine erstaunliche Leistung.