April 25, 2010

Friedrich Schiller: Maria Stuart, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Stephan Kimmig)

England als eine Art Bungalow, luftig und doch karg und streng umfasst er Marias Kerker wie Elisabeths Palast. Er ist beider Gefängnis, ein Entkommen nicht möglich, nicht für die machtlose Gefangene und nicht für die mächtige Herrscherin. Schiller hat sein Drama als Plädoyer für die Freiheit angelegt, Stephan Kimmig reduziert es auf ein Kammerspiel über Einsamkeit und die Macht der Angst.

2007 hatte die Inszenierung in Hamburg Premiere, 2008 war sie zum Theatertreffen eingeladen, jetzt hatte sie am deutschen Theater Premiere. Mit einer gewichtigen Änderung: Anstelle von Paula Dombrowski steht jetzt Katharina Marie Schubert als Elisabeth auf der Bühne. Sie spielt die Königin als eine ständiger Spannung ausgesetzte Frau, stets kurz vor dem Zerreißen, wechselnd zwischen nervöser Überspanntheit und um sich schlagender Agression. Das ist teilweise an der Grenze zur Karikatur, und doch kippt es nie ganz ins lächerliche, denn die Angst, die sie treibt, ist nie weit von der Oberfläche.

Susanne Wolff als Maria ist eine Resignierte, die ihre Würde zu bewahren sucht, und trotzdem zum Spielball zwischen Angst und Hoffnung wird. Die Angst treibt sie in die Verzweiflung und häufiger noch in die Abstumpfung, die Kapitulation.

Angst ist das zentrale Handlungsmotiv und ihre Angenten sind Männer: Elisabeths Staatsrat ebenso wie der Möchtergern-Retter Mortimer. Sie sind weniger eigenständige Figuren als Repräsentanten verschiedener Tendenzen und Interessen, die auch in den Protagonistinnen aktiv sind.

Das Drama spielt sich in und zwischen den beiden Königinnen ab und es ist ein Drama der Einsamkeit. Ob Gefangene im Kerker oder von rivalisierenden Hofschranzen umgebene Königin: Einsamkeit umgibt beide in dieser sachlichen, kalten Welt. Und hier hat auch die Angst ihren Ursprung, die Elisabeth zur Mörderin werden lässt und zu einer, die andere für ihren Mord bluten lassen wird. es ist die Angst, allein gelassen zu werden von und in der Welt, eine existenzielle Angst, eine Angst vor der Auslöschung.

Und so triumphiert am Ende weder die siegreiche Elisabeth noch die gottergebene Maria. Burleighs Lachen, als er von Elisabeth zum Sündenbock gemacht wird, fasst es zusammen: Er, der Diener und Agent der Angst, ist der Gewinner, denn Elisabeth ist fest in ihrem Bann.

April 24, 2010

Dennis Kelly: Taking Care of Baby, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regisseur: Sascha Hawemann)

Eine Frau, deren zwei Kinder gestorben sind, ein Verdacht, eine Verurteilung, ein Freispruch in der Revision, ein umstrittener Psychiater und eine zerbrochene Familie: Das ist der Stoff, aus dem Dennis Kellys 2007 in London uraufgeführtes Stück ist. Und doch geht es um anderes: Um nichts weniger als die Wahrheit, ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit und die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt. Oder besser: ob es die eine Wahrheit, einer der Grundfesten mesnschlichen Denkens und wohl auch Zusammenlebens überhaupt geben kann.

Kelly hat das Stück im Stile des dokumentarischen Theaters geschaffen. Wir hören O-Töne der Protagonisten, aufgezeichnet in Interviews und Briefen und auf die Bühne gebracht. Nichts sei geändert worden, so das Verdikt des Autors zu Beginn. Die Figuren bekommen Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen,ihre Wahrheiten zu verkünden. Und ihre Stories sind in sich geschlossen und glaubwürdig. Kelly vergibt keine Sympathien oder versucht dies zumindest. bErsstellt diese Wahrheiten vor, statt sie zu bewerten. Am Ende entsteht ein polyphones Konzert sich widersprechender Wahrheiten, ohne dass ihre Wertigkeit unterschiedlich gewichtet wäre.

Und nicht nur das: Auch das Theater steigt in den Prozess des Hinterfragens von wahr- und Gewissheiten mit ein. Denn natürlich ist dies keine wahre Geschichte, sondern komplette Fiktion, auch wenn sie von tatsächlichen Fällen inspiriert ist. Doch: Die Interviews, die hier inszeniert werden, haben nie stattgefunden. Ein hochinteressantes und komplexes Stück.

Sascha Hawemann hingegen, Regisseur der deutschen Erstaufführung, macht es sich viel einfacher. Was bei Kelly ein Labyrinth persönlicher Wahrheiten ist, wird hier zum simplen, ja plumpen Gegensatz von Wahrheit und Lüge. Hawemann vergibt Sympathien, er macht klar, wer recht hat, welche Geschichte stimmt, er wertet, wo Kelly nur zeigt. Er bewertet die Wahrheiten und stellt damit die Gewissheit wieder her, die Kelly ja auflöst: dass es so etwas wie eine gültige Wahrheit geben kann. Und so wird Kellys Stück zur einfachen Parabelvon Wahrheit und Lüge, die nichts hinterfragt. Auch nicht die Rolle des Theaters. So wird der Autor zur Figur und das Ganze seines Kerns bereaubt. Was bleibt, ist ein großartiges Ensemble (Meike Droste, Moritz Grove, Michael Schweighöfer, um nur die herausragenden zu nennen) und die Erkenntnis, das Potenzial des Stücks verchenkt zu haben.

April 22, 2010

Film review: A Single Man (Director: Tom Ford)

Eyes: blue, brown, grey. From up close they shine, repeatedly. Where eyes shine, there's life. In the midst of despair, they are proof that nothing is lost yest, even when all seems lost. In the remarkable directorial debut of fashion designer Tom Ford, based on Christopher Isherwood's celebrated novel, English professor George Falconer (stunningly subtle in his pain and his refusal to give in to his will to live: Colin Firth) mourns the death of his lover, a pain made even more unbearable by a society that does not allow the kind of love they shared. A man intent on ending his life, a man who, in hin despair is desired, loved, admired. By his oldest friend Charly who he once had a brief affair with (a desparate, wild, longing: Julianne Moore), by Kenny, a student who could be accused of stalking him (pubescent in both his earnestness and lust for life: Nicholas Hoult), by a young Spanish stranger he meets outside a supermarket. On this day which should be the day he dies, life keeps breaking in.

Tom Ford, the designer, uses colour to characterize this battle between life and death. At the start, when Falconer embarks on what is to be his last day, all is pale, a cold world. His memories of happy days are drenched in bright, warm colour, colour that keeps entering when life reaffirms itself. This is not done clumsily at all: Sometimes colour comes in slowly, slowly creeping into the chilliness of despair, other times it comes in a flash, when some agent of life bursts in.

Not only in colour, the film is a feast of style. A rhythmic masterpiece, it slows down and speeds up, it stops and starts, goes in to slow motion, disintegrates into fragments of time. Editing and cinematography, together with a never imposing score turn this almost into a symphony. Not all is perfect, of course: A memory in black and white temporarily breaks the rhythm and is not devoid of cliché. Kenny will learn this, just as George has. A quiet, tender, beautiful film.

Even though "A Single Man" is not flawless, it is a little miracle. Polished, stylish, thoroughly composed films like this, tend to be a little sterile, artificial, cold, yet this one breathes so much warmth, so much life, even in its despair, pain and grief and it does so in such an easy, almost effortless and never heavy-handed way. In the end, dead eayes join the living ones, yet the colour remains. Death after all is part of life and you can't affirm life without welcoming death to it.

April 19, 2010

Film review: Precious (Director: Lee Daniels)

Don't believe the hype? When it comes to 'Precious', you better do. The most unlikely of box-office favorites, Lee Daniels' independent fimbecame the secret star of the 2010 awards season. A film that has everything going against it: A massively overweight protagonist battling with rape, abuse, illiteracy, poverty, the most brutal of mothers, two children one of whom is handicapped. The stuff tearjerkers are made of. And yet, miraculously, this is a life-affirming film. Because Precious refuses to allow the circumstances to crush her. At the height of abuse, she escapes into fantasies, becoming a film star, a model, someone desired. This opens a direction for the film to go: a slow dissolution of reality into a fake world, a protagnist losing her grip on reality.

Yet again, she and the film defy the odds. Because Precious does not only fight her hopeless reality in the realm of imagination. With a stubbornness that is as relentless as the world she comes from, she begins to shed the labels she had been stuck with, stupid, fat, useless, devoid of any talent. The silent, immovable, passive block of flesh come to life, discovers skills, personality, desire. Not in her imagination, but in her real world.

The way Daniels allows this emancipation process, this awakening to develop is so devoid of sentimentality, so completely honest, brutal at times, funny at others. There is no fingerpointing, no looking for blame, but a desire to live, to find a life for herself and her kids. Gabourney Sidibe plays Precious with a quiet, stubborn dignity that allows sympathy but not pity. That may be reserved for MoNique's harrowing portrayal of the mother, who tries to control, to dominate, to suppress and is left with nothing in the end. Or even worse, with the realization that nothing was all she ever had. That the film does not condemn her is part of the strength of this remarkable film.

April 18, 2010

PeterLicht nach Molière: Der Geizige, Maxim-Gorki-Theater, Berlin (Regie: Jan Bosse)

Ein perspektivischer, sich stark verjüngender, vollkommen verspiegelter Raum, ein riesiger Tisch, daran Gestalten in überbetont barocker Kleidung: Das ist das "Familiengemälde) so der Untertitel, das Jan Bosse mit seinem Bühnenbildner Stéphane Laimé auf die Bühne des Maxim-Gorki-Theater gebracht hat. Musiker PeterLicht hat ihm dazu einen Text gebastelt, der sich nur soweit an Molières noch immer populärstes Stück anlehnt, wie es nötig is, um die gewünschten ssoziationsketten zu ermöglichten.

Das Ergebnis ist tatsächlich ein Gemälde, ein statisches Tableau, das keine Entwicklung zu lässt, weil hier niemand bereit ist sich zu bewegen. Wenn Cléanthe seinen Vater um Geld anbettelt, geschieht das in einem so elliptischen Gespräch, dass die Sprache den Ausgang bereits vorwegnimmt. Andere Dialoge entspinnen sich in einem gewollt primitiven, bestimmten Bereichen der Jungendsprache entlehnten Jargon, der sich selbst genug ist.

Man lästert über die "Alten", die auf ihrem Geld sitzen, spricht aber genauso darüber, wer den Tisch deckt und den Müll herausbringt (Cléanthe: "Ich bin nicht dran!), philosophiert über Weichmachern in Mineralwasser, erzählt über Hosen, die nicht gewaschen werden dürfen oder gibt seinen Wirbeln Namen. Die Jungen, das sind nicht mehr die Lebenshungrigen, die sich gegen den lebensfeindlichen Vater wehren - das sind die gelangweilten, selbstverliebten, antriebslosen Egoisten.

Der einzige, der hier so etwas wie Ideale, Prinzipien, Wünsche hat ist Harpagon, der das Reine sucht, das er im Geld gefunden zu haben glaubt. Auch er bleibt von einer gewissen ironischen Brechung nicht gänzlich verschont, aber er ist der einzige, bei dem man ein Rückgrat vermutet, das noch gebrochen werden könnte.

Auch Musik - das ist bei PeterLicht nicht verwunderlich - spielt eine Rolle, und überhaupt ist der Rhythmus der Inszenierung ein durch und durch musikalischer. Das Ende wird nicht gespielt - wie sollte es auch, kann doch ein Gemälde kein Ende haben? - sondern erzählt, oder besser erfunden. Jeder kriegt alles, keiner verliert, und so sitzen sie denn wohl noch heute, fragen sich "Was geht?" und "Wie bist du denn drauf?" und antworten: "Häh?".

April 11, 2010

Das Interview nach dem Film von Theo van Gogh und dem Drehbuch von Theodor Holman, Theater am Neumarkt, Zürich (Regie: Martin Kušej)

In seinem Film "Interview" von 2003 brachte der 2004 ermordete niederländische Regisseur Theo van Gogh ein ungleiches Paar auf die Leinwand: Politikredakteur Pierre soll Filmsternchen Katja interviewen. Es entwickelt sich ein Spiel gegenseitiger Verletzungen, ein Hin und Her von Anziehung und Abstoßung, das nicht langweilt und den Zuschauer in seinen Bann zieht. Dies gilt auch für Steve Buscemis Remake von 2007, nicht jedoch für Martin Kušejs Zürcher Theateradaption, die jetzt im Rahmen der Autorentheatertage in Berlin zu Gast war.

Was im Film noch Dynamik und zwischenmenschliche Intensität war, wird hier zur bloßen Behauptung. Das liegt auch an Kušej: Von einer Regie ist hier nichts zu spüren, da ist keinerlei Erzählrhythmus, die Wendungen kommen unmotiviert und willkürlich, eine Linie ist nicht zu finden, ein Sog entsteht hier nie. Die existenzialistische Bedrohung, von der die Filme leben, ist hier nur behauptet.

So bleiben auch Birgit Minichmayr und Sebastian Blomberg immer souverän, aber nie brillant. Dafür sind ihre Figuren zu eindimensional, zu klischeehaft, zu stereotypisch, bleiben ihre Dialoge Worthülsen, die oft den Schritt vom Banalen zum Ärgerlichen machen, und lässt die Regie sie allein. So bleiben Geschichte und Figuren blutleer und ohne Leben sowie die Erkenntnis: Auch 90 Minuten können sehr lang sein.

Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug, Maxim-Gorki-Theater, Berlin (Regie: Jan Bosse)

Mit populären "Klassikern" ist das so eine Sache. Jeder hat sie schon hundertmal gelesen und auf der Bühne gesehen und weiß genau, wie sie zu spielen und zu inszenieren sind. Die haben oft über jahrhundertelange Rezeptionsgeschichte soviel Patina und staub angesetzt, dass sie unter diesen dicken Schichten kaum mehr zu erknnen sind. Und während Shakespeares Historien und Tragödien oder Goethes Faust genug Tiefe und Komplexität aufweisen, dass ein guter Regisseur hin und wieder in der Lage ist, noch eine frische Sicht auf vermeintlich Altbekanntes zu finden, fällt dies einer von jeher recht derben Komödie wie Kleists "Zerbrochnem Krug" viel schwerer. Wer ihn inszeniert, endet bald - wie kürzlich Altmeister peter Stein am Berliner ensemble -bei altbackenem, biederen Boulevardtheater.

Dabei kann leists Lustspiel viel mehr. Es bietet großartigen Sprachwitz, einen guten Schuss Anarchie, einen durchaus ernsten und gesellschaftskritischen, ja sogar revolutionären Sprengstoff aufweisenden Hintergrund und, last but not least, einige der großartigsten Charaktere der Theatergeschichte.

Jan Bosse hat den "Krug" 2006 in Zurich inszeniert und diese Inszenierung nun für das Maxim-Gorki-Theater und die Ruhrfestspiele Recklinghausen adaptiert. In seinem Ansatz hat sich Bosse konsequent für die Komik des Stückes entschieden. Ein grandioses Ensemble, in dessen Mittelpunkt der unglaublich anpassungsfähige und doch verletzliche Dorfrichter Adam Edgar Selges steht und der kongeniale Unterstützung in Jean-Pierre Cornus Gerichtsrat Walter findet. Bosses Ansatz ist spielerisch: Vor allem spielt er immer wieder mit den Erwartungen des Publikums: So beginnt die Vorstellung mit einem geschundenen und nackten Adam bereits im Foyer inmitten der auf Einlass wartenden Zuschauer, so schickt Adam die Zuschauer in die Pause, um Walter allein auf seine Seite ziehen zu können, während dieser das Publikum zum Bleiben animiert, so gibt es mehrere falsche Enden, ehe der Theaterabend, wie er es letzlich muss, beschlossen wird.

Wenn das Publikum endlich in den Saal tritt findet es sich in einer Art Gemeindemehrzwecksaal wieder, in dem die Spuren der vorabendlichen Dorfdisco schrittweise getilgt und der Ort vor den Augen der Zuschauer, die immer auch Zeugen und Gäste der Gerichtsverhandlich bleiben, zum Gerichtsraum wird, der übrigens sicher nicht zufällig ein wenig an die Fernsehgerichte à la Barrbara Salesch erinnert. Dieses Speil mit den Konventionen des Theaters und der Grenze zwischen Bühne und Punlikum ist nicht neu und hat doch selten so leicht und unideologisch stattgefunden. Hier geht es nicht um einen Diskurs irgendeiner Art, sondern um das spure Spiel, die Wurzel und der Kern jedes Theaters.

Denn was hier passiert, ist pures Lust-Spiel, ganz im Sinne Kleists. Das ist immer komisch und manchmal schamlos albern, das heißt albern, ohne dass sich irgendjemand dieser Albenheit schämt. So zum Beispiel, wenn Erbrochenes vom Vorabend zu multiplen Unfällen führt, wenn Marthe Rull (großartig: Franziska Walser) die Geschichte des Krugs mittels Overhead-Projektor doziert oder wenn sich Matti Krause als Ruprecht in seinen Zeugenaussagen bei der Mimik und Gestik eines Mario Barth bedient.

Bosse interessiert sich nicht für den gesellschaftlichen Unterbau oder für die großen Themen wie Macht versus Ohnmacht, Korruption der Mächtigen gegen das Leid der Entmachteten. Er iszeniert einen Schwank, und das mit einer Frische, leichtigkeit und Dynamik, dass einem als zuschauer ganz schwindelig wird. er reduziert den "Krug" konsequent auf das Schwankhafte und befreit ihn damit von der Schwere jahrhundertelangen interpretatorischen Ballasts. Es gab einmal eine zeit, da wollte und sollte Theater nur unterhalten. Jan Bosse zeigt, dass Regietheater auch dies vermag, ohne dumpf zu werden. Die Patina ist ab, das Rennen um die ultimative "Krug"-Interpretation darf beginnen.

April 07, 2010

Kean ou Désordre et Genie Comédie en cinq actes par Alexandre Dumas et Die Hamletmaschine par Heiner Müller, Volksbühne, Berlin (Regie: Frank Castorf)

Angesichts der Wiederaufnahme des "Kean" habe auch ich meine Castorf-Allergie für einen Abend zur Seite gelegt. Das Fazit: Ein angesichts seiner Länge erstaunlich kurzweiliger Abend mit einem Hauptdarsteller, der verhindert, dass er irgendwann vollends auseinanderfällt. Alexander Scheer ist phänomenal: Er schreit, rennt, springt, tanzt und ist trotzdem nie nur Clown, nur Show, nur Effekt. Wenn der Abend auch stillere, ernsthaftere Nuancen enthält, ist das vor allem Scheer zu verdanken. Kurz gesagt: Die Inszenierung funktioniert, wenn er auf der Bühne ist. Ist er es nicht, zerfällt sie zumeist in Beliebigkeit und Albernheit.

Das hat natürlich auch mit Castorfs Arbeitsweise zu tun: Castorf inszeniert nicht einfach Dumas Stück über den legendären und skandalumwitternden Schauspieler, er kombiniert den Text mit Müllers "Hamletmaschine" und Texten Lothar Trolles zur industriellen Revolution in England. Vor allem die Behandlung des Müller-Texts zeigt das Problem des Abends.

Zweimal wird er vor der Pause zitiert. Das erste Mail durch Kean/Scheer, der daraus eine Auseinandersetzung mit seinem Beruf, seiner Berufung vielleicht und seiner Rolle - im Leben wie auf der Bühne - macht. Hier gelingt es, mit dem Text dem Charakter Kean eine zusätzliche Dimension, ja Tiefe zu geben, die ihn und auch seine späteren Handlungen, in anderem Licht erscheinen lässt. Das zweite Auftauchen ist eine gelungene Parodie, vorgetragen von jungen Damen, die Kean aufsuchen, um Schauspielerinnen zu werden. Dabei hätte man es bewenden lassen können. Nicht jedoch Castorf: Er sucht die ernsthafte, vielleicht auch ideologische Auseinandersetzung mit Müller, jetzt völlig ohne Scheer. Und plötzlich ist es ein Brüllen und Ringen in Holzhütten, das ernst genommen werden will, aber keinerlei Sinn zu vermitteln vermag. Theatersport, Deklamationstheater, wie schon in der ersten Szene, als die Figuren ihre Texte aufsagen, gewollt künstlich, neben und nicht zueinander.

Der Abend ist dann am stärksten, wenn man ihn Theater sein lässt. Tragödie, Komödie, Farce, Boulevard - egal! Die Castorfschen Zutaten - Trolles Texte, Frau Keans Verwandlung in Nico, Keans Telefonat mit Uschi Obermaier - geschenkt. Wenn Castorf die Szenen laufen lässt und die Darsteller spielen, entfaltet sich plötzlich ein Schauspiel über Rollen und die Wahrheit dahinter, über gesellschaftliche und private, auch über Klassenunterschiede, über das Festhalten von Gesellschaften jeder Art an Rollenbildern. Das mag nicht sonderlich originell sein, bietet aber in seinen besten Momenten das, was die Volksbühne will: Theater mit Relevanz. Nicht mehr, nicht weniger.

April 06, 2010

Anton Tschechow: Krankenzimmer Nr. 6, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Dimiter Gotscheff)

Tschechow ist "in". Ob Gotscheff, Thalheimer oder der viel zu früh verstorbene Jürgen Gosch: An Tschechow kommt das deutschsprachige Theater derzeit nicht vorbei. Ein Theater der Krise, ein Theater des Stillstands und des bevorstehenden Endes. Und doch ist ein anderer "Endzeitler" der andere, heimliche dominierende Geist dieser Spielzeit: Samuel Beckett. Hat zunächst Thalheimer Brechts (ein anderer derzeitiger "In"-Autor - welches Theater hat seine Johanna in dieser Spielzeit eigentlich nicht inszeniert?) Puntila in einen Hamm oder Pozzo verwandelt, inszeniert Gotscheff jetzt Tschechow als Endspiel.

Die zugrundeliegende Erzählung ist nur der Rahmen, Gotscheff präsentiert eine geschlossene Gesellschaft des Tschechowchen Figuren-Universums, gestrandet in einer letzten Enklave einer endzeitlichen Welt. Das Irre, Andere, Ausgestoßene wird zum Drinnen, die Welt zum Draußen. Aber ist da überhaupt noch etwas oder sind die zunehmend eingeschlossenen allein? Und ist es überhaupt wichtig?

Noch ein Beckettsches Element: Es findet keine Handlung mehr statt, ja keine Interaktion. Wie die körperlosen Köpfe in Becketts Play ergehen sie sich in Monologen, einen Austausch gibt es nur noch rudimentär, zum Ende erstirbt er ganz. Das wäre pessimistisch und doch nur ein konsequentes Zu-Ende-Erzählen der Tschechowschen Welt. Und doch ist nicht alles verloren: Die Tschechowsche Ironie und Gotscheffs leiser Humor, der von Beckett und Müller stammt, sind noch da und mit ihnen so etwas wie Hoffnung?

Eine spannende Inszenierung, die handwerklich und dramaturgisch nahezu perfekt und schauspielerisch atemberaubend ist und die trotzdem nie wirklich berührt.

Falk Richter / Anouk van Dijk: Trust, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Falk Richter und Anouk van Dijk)

Trust ist der Versuch eines Kommentars, ja, einer Analyse, wenn beides droht, in Platitüden, in Binsenweisheiten zu erstarren. Der Kapitalismus, die Finanzkrise, der Zusammenbruch der Mittelschicht: all das ist zu Tode analysiert, behauptet, herbeigeschworen worden. Trust liefert die Bilder zur Krise. Richters Text ist Steinbruch, der von van Dijk illustriert, intensiviert, aber auch punktuell aufgehoben wird. Die Tänzer winden sich wie die Darsteller, wie auch die Sprache, die zu Worthülsen wird, deren Bedeutung sie längst verlassen hat. Man muss der zugegeben pessimistischen, ja fatalistischen Analyse nicht zustimmen, um ihr Stringenz zu attestieren. Trust ist Bewegung, im Tanz, im Spiel, in der Sprache, aber es ist eine ziellose Bewegung, die Bedeutung sucht und nicht findet, eine verzweifelte, die Boden sucht, wo keiner mehr ist. Eine Verbindung aus Tanz- und Sprechtheater, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ein intensiver, intelligenter und zum Nachdenken anregender Theaterabend.

April 04, 2010

Dea Loher: Diebe, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Andreas Kriegenburg)

Kriegenburg und Loher, das ist eine dramatische Liebesbeziehung, die Kriegenburgs Umzug von Hamburg nach Berlin überstanden hat und das Potenzial hat die des viel zu früh verstorbenen Jürgen Gosch mit Roland Schimmelpfennig zu ersetzen. "Diebe" ist die erste gemeinsame Uraufführung am DT und es ist eine untypische - für Loher wie für das DT dieser Spielzeit: Denn was an dieser Inszenierung vor allem anderen auffällt, ist ihre Leichtigkeit. Das gilt für das Stück, das intelligent, durchaus vielschichtig, überraschend unterhaltsam und humorvoll geschrieben und dramaturgisch sehr gut strukturiert ist, ohne streng zu wirken.

Das gilt auch für die Inszenierung: Kriegenburg hat eine Bühne in Form einer rotierenden Mühle geschaffen. Das ist bildlich stark und stringend, drängt sich aber sich nie auf. Das Bühnenbild bestimmt und strukturiert die Aufführung und bleibt trotzdem im Hintergrund. Im Vordergrund stehen die Figuren, zu wechselnden Tableaus aufgereht, aber nie statisch, leblos. Kriegenburg akzentuiert die komischen Momente, ohne die tragischen zu verraten, auch in der Komik scheint immer eine gewisse Melancholie auf, ohne erstere zu erdrücken. Es ist eine leicht, fein nuancierte und angenehm ruhige Inszenierung, die berührt und unterhält - und vor allem trotz ihrer Länge nie langweilt.

Friedrich Hebbel: Die Nibelungen, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Michael Thalheimer)

Was ist aus Thalheimer geworden, dem großen Stückesezierer, der Schicht um Schicht entfert, um den Kern freizulegen und auf die Bühne zu stellen? Für den Inszenieren einer Operation am offenen Herzen gleichkommt? Hat er bei seiner letzten DT-Inszenierung noch Brechts Puntila-Gebäude bis auf die Grundmauern niedergerissen (um allerdings feststellen zu müssen, dass da statt des vermuteten Fundements nur gähnende Leere ist), kratzt er hier nicht einmal an der Fassade, sondern stellt nur hohle Kulissen auf, die er aber in ihrer Hohlheit nicht entlarvt. Thalheimer recyclet: die klaustrophobische Bühne der Ratten, die Blutorgie der Orestie, und wie so oft ist die Kopie nur ein schwaches Echo. Sind seine Bilder, seine Gruppenaufstellungen dort noch mit Bedeutung aufgeladen und legen sie den Blick den von Thalheimer ausgegrabenen Kern, die Essenz, den Grund des Stückes frei, sind sie hier nicht nur schwächer - hinter ihnen verbirgt sich auch nichts. Da ist kein interpretatorisches Ansatz, da ist keine Richtung, in die das führt, da ist nicht mal Kunsthandwerk, sodern nur Handwerk. 3 Stunden Hilflosigkeit bei Regisseur wie Darstellern, drei Stunden ausdrucksloses Gebrüll, drei Stunden angestrengte Zuschauer.

Friedrich Schiller: Kabale und Liebe, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Stephan Kimmig)

Die Bühne, ein Kasten voller Türen, in den Wänden, der Decke, dem Boden. 34 an der Zahl. Ein Sinnbild für die Ausweglosigkeit, in der sich die Protagonisten des Stückes wiederfinden? Zunächst durchaus eindrucksvoll, wenn auch etwas plump. Die Inszenierung: selten langweilig, kaum nervtötend, gut strukturiert, nicht ohne Ideen. Und doch ohne Idee. Wie so oft am DT in dieser Spielzeit, fragt sich der Zuschauer, was den Regisseur an dem Stück interessiert hat. Weder der Liebesgeschichte noch dem gesellschaftlichen Aspekt, der einen großen Teil des Programmhefts einnimmt, wird Leben eingehaucht. Alles bleibt Behauptung, Schein. Das ist sauber inszeniert, solides Handwerk, dem das Konzept fehlt. So bleibt eine textgetreue Abbildung, die weder bewegt noch im Gedächtnis bleiben wird. Und ein Ulrich Matthes, den man noch nie so gelangweilt sah.

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Well, here it is. For me to read and maybe one or two others. Sometime. Welcome!