November 25, 2010

spielzeit'europa - Un Tramway nach Tennessee Williams, Odéon-Théâtre de l’Europe Paris (Regie: Krzysztof Warlikowski)

Am Anfang, die Bühne ist noch dunkel, nur ein einzelnes Licht erhellt eine einsame Figur auf einem Barhocker, auf einer verglasten Galerie im Bühnenhintergrund, die Beine gespreizt. Sie rezitiert einen Kinderreim, irgendwo im Dreieck zwischen Laszivität, Unsicherheit und Unschuld. Ein Bild der Einsamkeit, der fortschreitenden Vereinsamung, der Einkapselung in sich selbst. Eion Bild, in dem die weitere Geschichte bereits vorweggenommen ist. Der Kinderreim wird am Ende wiederkehren. Stanley Kowalski wird ihn sprechen, um Blanche, die längst in sich gefangen ist, zu beruhigen, bevor sie weggebracht wird, in die Psychiatrie.

Regisseur  Krzysztof Warlikowski erzählt Tennessee Williams Drama konsequent aus der Perspektive von Blanche, sie ist der Dreh-, Angel- und Mittelpunkt und später die Leerstelle, über die sich alles andere definiert. Das ist auch folgerichtig, inszeniert er das Stück doch als Studie über Einsamkeit, über Sehnsüchte und ihr Absterben in der Unmöglichkeit echter menschlicher Beziehungen.

Und er hat in Isabelle Huppert eine Blanche, die das ganze Spektrum dieser Figur, die hier strahlende Symbolkraft hat, ausloten und ausspielen kann. Sie wechselt scheinbar mühelos zwischen Hysterie und Resignation, Kämpfertum und Selbstaufgabe, Unsicherheit und Selbstbewusstsein, Lebenswille und tiefster Verzweiflung, Stärke und Verletzlichkeit, bis sie am Ende, in sich zurückgezogen, in Erstarrung endet. Huppert macht aus dieser Blanche ein Symbol der Vereinsamung, das über die Figur hinausreicht und diese doch nie verrät. Un Tramway ist oim besten Sinne des Wortes Schauspielertheater und es hat eine Hauptdarstellerin, die die Möglichkeiten, die sich ihr bieten, restlos auslotet, ohne es zu einer narzisstischen One-Woman-Show werden zu lassen.

Sie steht dabei für das gesamte Personal dieses Stücks, denn Warlikowski zeigt ohne Ausnahme jeden als vereinsamten, als Insel, der nicht imstande ist, Brücken zu den anderen zu bauen. In einem der vielenen Einschübe, die die Spielhandlung immer wieder unterbrechen, spottet Renate Jett über die Auffassung, Liebe bedeute, Kompromisse einzugehen und spricht dabei ein Grundmotiv des Abends an. Denn das, worin sich Blanche von den anderen Figuren Unterscheidet, ist nicht ihre Isolation, ihre Einsamkeit. Das sind alles einsame Menschen, deren Sehnsüchte, so noch vorhanden langsam absterben. Auch Kowalski ist nicht mehr der einst von Brando verkörperte, starke, von archaischer Kraft erfüllte wilde Mann, er ist ein Melancholiker, ein Einsamer, dessen Gewalt ein Ventil der Angst vor dem Alleinsein ist.

Nein, was Blanche von den anderen unterscheidet, ist ihr Unbedingtheit, ihre Weigerung, die Kompromisse einzugehen, die Abmachungen zu treffen, die es den anderen ermöglicht, ein vereinbartes Nebeneinander so zu leben, dass es als Miteinander erscheint. Ein wirkliches Miteinander kann es hier aber nicht geben. So ist Blanche vielleicht nur die einzig Konsequente. Und so behält sie am Ende ihre Würde, wie die anderen, die einen anderen Weg gegangen sind. Es gehört zu Warlikowskis Verdiensten, dass er niemanden opfert, niemanden vorführt.

Kongenial auch die Bühne von Malgorzata Szczesniak: Ein langer Glasriegel nimmt die gesamte Breite ein, wird vor und zurückgeschoben, unter ihm eine Bowlingbahn. Das wirkt edel, elegant, wie Blanche und ihre Klaidung, aber auch kalt, unpersönlich, nüchtern, abweisend. Ein schönes Gefängnis, aber ein Gefängnis nichtsdestotrotz. Hier gibt es keine Wärme, nicht in der Ausstattung, nicht in den Farben. Schwarz dominiert, am Ende trägt Blanche blau, aber da leuchtet, da lebt nichts.

Dazu trägt auch die Musik bei, die fast ohne Unterbrechung zu hören ist, ein meist ruhiger, trauriger Fluss, der laut wird, wenn Blanche ausbricht. Sie untermalt, sie stört nicht, wie so oft. Das gilt auch für das Video, das im Bühnenhintergrund versteckte Szenen zeigt, aber auch Nahhaufnahmen der Gesichter. Nichts an dieser Inszenierung ist aufdringlich, alles trägt dazu bei, die Grundstimmung des Verlorenseins, der unentrinnbaren Einsamkeit, zu schaffen und aufrechtzuerhalten.

Wenn der Abend eine Schwäche hat, liegt sie in den schon erwähnten Einschüben. Wenn Renate Jett scheinbar endlos eine Sage rezitiert und singt, wenn die biblische Gesichte der Salomé erzählt wird, wenn Jett wiederholt Liedgut der Popgeschichte zum besten gibt, trägt das wenig zum Geschehen bei, sondern unterbricht den Spielfluss, stört den Rhythmus,sorgt für unnötige Längen. Und ist angesichts der Naturgewalt Huppert und der sonst sehr stimmigen Inszenierung nur ein kleiner Schönheitsfehler.

November 23, 2010

Roland Schimmelpfennig: Peggy Pickitt sieht das Gesicht Gottes , Deutsches Theater, Berlin (Regie: Martin Kušej)

Zwei Paare, um die Vierzig, gehobene Mittelklasse, gut situiert: Es ist sicher kein Zufall, dass man bei dieser Konstellation sofort an Yasmina Rezas Gott des Gemetzels denkt, zumal Annette Murschetz' weißer Lichtkubus vor schwarzem Bühnenhintergrund an Johannes Schütz' Bühnenbild für Jürgen Goschs Zürcher Reza-Inszenierung erinnert. Auch Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, ebenfalls in einer Gosch-Inszenierung mit ähnlicher Bühne seit Jahren ein Publikumsrenner an diesem Haus drängt sich auf. Schimmelpfennig, dessen beste Inszenierungen auf Goschs Konto gingen, wird sich der Ähnlichkeit bewusst sein, vielleicht ist der Vergleich sogar gewollt.

Doch er endet hier. Nicht, weil in dem Wiedersehen zweier befreundeter Paare nach sechs Jahren, in denen eines der Paare in Afrika Entwicklungshilfe geleistet hat, keine Konflikte auftreten, keine verdrängten Agressionen aufbrechen, keine Leichen aus den Schränken hervorquellen. Von alldem gibt es genug: Die Ehe der Daheimgebliebenen kriselt, das Afrika-Paar hat einander betrogen, ein aufgenommenens Mädchen wurde zurück- und dem wahrscheinlichen Tod überlassen, was ihnen die Hiergebliebenen auch vorwerfen, während diesen ihr Dableiben angelastet wird, jedem ist sein eigenes Handeln suspekt und vergrabene Ressentiment aller Beteiligter gegeneinander gibt es zuhauf.

Und trotzdem bleibt das Stück ebenso blass und blutleer wie Martin Kušejs Inszenierung. Zunächst zum Stück: Viel soll hier verhandelt werden, es geht um nichts weniger als die Schuld des Westens gegenüber Afrika, die neokolonialistische Selbstherrlichkeit, der Egoismus der Helfer, das Überlegenheitsgefühl - all das wird angesprochen und verpuft doch in erschreckend banalen Phrasen und Argumenten. Es bleibt bei der plumpen Karikatur, beim Kratzen an der Oberfläche, Tiefgründigkeit oder ernsthafte Auseinandersetzung sucht der Zuschauer vergebens.

Da hilft auch nicht, dass Schimmelpfenning eben nicht realistisch erzählt. Die Szenen werden von Kommentaren der Figuren durchbrochen, Sätze, Szenenfragmente werden wiederholt, zum Teil in unterschiedlicher Betonung, aus der anfänglich linearen Chronologie wird zunehmend eine Art Kreisbewegung. Da traut einer -zu Recht -seiner eigenen Geschichte nicht, schaft eine Distanz, wo ein Eindringen in die angekratzten Themen nötig wäre. Das ist "L'Art pour l'art" und weniger enthüllend als ablenkend.

Kušej verschlimmert die Sache noch: Anstatt Schimmelpfennigs gewollter Künstlichkeit zu folgen, lässt er fast naturalistisch spielen, als wäre man bei Reza oder Albee. Gleichzeitig akzentuiert er die Künstlichkeit durch absurd lange Pausen, die keinerlei Erzählfluss oder Rhythmus aufkomme lassen. Inmittel von alldem versuchen sich die allesamt auf verlorenem Posten befindlichen großartigen Darsteller in psychologisierendem Realismus, der am prästenziösen Korsett von Autor und Regisseur scheitert. Einzig Maren Eggert vermag in kurzen Momenten - entwa in den "Zwiegesprächen" der titelgebenden Plastikpuppe mit einer afrikanischen Holzpuppe - so etwas wie emotionale Tiefe anzudeuten.

Ansonsten bleibt ein - gerade vor dem Hintergrund eines durchaus diskssionswürdigen Themas - erschreckend sinnfreier Abend, der beweist, wie lang 80 Minuten sein können.

November 22, 2010

Film Review: Harry Potter and the Deathly Hallows Part 1 (Director: David Yates)

So this is it. The beginning of the end. The start of the final chapter. It's been ten years since the first film, about 15 since the first book. And now, with these two films, it's supposed to end. So it's not as if there was no pressure. And it's only the exposition, the prologue as it were, a film whose only purpose it is to set up the grand finale, the one all these years have been leading up to. So how do director David Yates, screenwriter Steve Kloves and the all-star cast fare?

The result is a mixed bag as was to be expected. The fact that the final part was split into two films - a decision that has financial benefits but is also due to the complexity of the book and the multitude of strands that need to be picked up and resolved - allows the film to adopt a slower pace, not the frantic rush that tormented some of the earlier instalments.

And indeed, the film is much slower. There are long scenes in which the protagonists just wait. For something to do or something to happen. The inertia, the paralysis, the grim despair that has begun to grip this world, it finds its expression in these scene. However, there are others which feel rushed, which get easy endings, too easy sometimes and which have no time to breathe or develop. The sense of a rushed succession of half-finished scenes which permeates the other films - it is not completely absent here.

The film is darker, too. No more relief, no more Hogwarts anecdotes, the gloom and bleakness, the desparation and hopelessness are constant. Gone is the colourful wizarding world of the first film, grey is now the prevailing colour. The film is cast in a pale, greyish light that drains it of all colour. The dark side has taken over, the images Yates and his DP Eduardo Serra create conform.

However, there is a "but" here too. It is particular the darkest aspect of the book which receives too little attention. For J.K. Rowling depicts the new regime as a fascist repressive totalitarian society which discriminates against all deemed not conforming to the new standard of normality, aiming at enslaving those left behind. It is a great and disturbing metaphor rowling creates. Yates, however, reduces it to hardly more than a footnote, thus reducing the abyss into which we get to stare. The same can be said about the sense of complete isolation from the outside world that is so strong in the book but much reduced here.

The special effects again are great but there is little that surprises, most has been seen in this series before. The one departure is great sequence in which the Tale of the Three Brothers, a key ingredient to the story, is told using expressionisting silhouette-like animation. It is, howver a short surprising moment among too many familiar images.

Finally, the acting. Left to fend on their own without the stellar supporting cast for much of the film, the three young protagonists do fairly well. Daniel Radcliffe is still a little wooden but he has its moments as does Rupert Grint who is less goofy and gets the adolescent outbreaks pretty well. But it's up to a matured, subtle, earnest Emma Watson to carry much of it, taking the other two with her. the scene in which Harry and Hermione, left on their own in complete isolation from the outside world, start dancing. Awkwardly, incompetently, but it's a short moment of life in a world that is dying.

So, an uneven impression remains in a film that is designed to serve another. Let's hope this one, the final chapter deserves this.

November 21, 2010

Henrik Ibsen: John Gabriel Borkman, Abbey Theatre, Dublin (Director: James Macdonald)

It's a cold and lonely world that director James Macdonald and set director Tom Pye have turned the Abbey stage into.  Mounds of snow frame the set on either side - in the end when all pretence of societal ambition, when all limits af civilised life are given up, the snow will take over. Before this rooms of different sizes are superimposed, greyish walls, hinting at cloudy skies, a bare, cold setting, fit for lonely people. The antique furniture does not create a feeling of comfort and cosiness - they are painful reminders of what has already been lost.

Ibsen's slowest, barest, bleakest play is a study of walking dead. People whose lives have long been over and who come to realise this in the course of an evening. Macdonald has assembled a stellar cast who can play all nuances of desperation, desparate hope, pretended grandeur or loneliness. Fiona Shaw in particular, as the wife of the disgraced bank manager Borkman who sets all her hope in her son who she wants to restore the family honor, is frightening in her desperate bitterness, her futile struggle against annihilation. Alan Rickman, playing Borkman, is quieter, more reserved, but even more encaged in his belief in his greatness, or rather his clinging on to it despite knowing better. He resists the temptation to show of and creates much more intensity by holding back. Lindsay Duncan as Borkman's great love and Mrs. Borkman's sister pales a little as the most realistic, the most resigned of the protagonists.

The bleakness, the hopelessness is spot on but it's never too much. And the main reason lies in Frank McGuinness who wrote this new, cleaner and fresher text version and James Mcdonald opting to explore the comic potential of this play that often leads to static, painfully slow and boring productions. Not much happens here, the story has been told, it's over, except not everyone is aware of it. It's difficult to stage but crew and cast have found a way. They turn the self-deception, the pretences of greatness, the hope against reality, they border on the ridiculous. In the hands of Rickman and Shaw in particular, the ridicolousness is released.

These are moments though which highlight the hopelessness of the aspirations rather than easing the weight of the despair. Through the laughter the walking dead become more visible. There is another temptation Macdonald avoids: He does not choose to transport the play into the present, an obvious idea in a time in which banks have become synonymous with the crisis facing the world economy. This is not a study on capitalism, it is a more universal story on human behaviour, on hope, hate, love, too, and the shells all of us hide in sometimes. The play shows what happens when we can't leave them anymore.

The final act is a bit of a problem as finally the melodrama takes over leaving a sour taste. Up to this point though this is a well-balanced, intense production which proves the dramatic potential of this stubborn play.

November 18, 2010

Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper, Berliner Ensemble (Regie: Robert Wilson)

1998 hat er zum ersten Mal hier inszeniert, seitdem kam er immer wieder: Den amerikanischen Theatermagier Robert Wilson und das Berliner Ensemble verbindet mittlerweile schon eine Langzeitbeziehung. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis Wilson Brecht inszenieren würde, den Gründer und bis heute Übervater des Hauses. Und welches Stück eignete sich besser als die Dreigroschenoper für einen Regisseur, der stets die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Bestandteile des Theaters propagiert - Text und Musik, Licht und Bühne. All diese sollen ihre eigene Sprache entwickelt, aus ihrem Zusammenspiel entsteht dann das einzigartige Theatererlebnis, mehr als die Summe seiner Teile. Wilson sieht sich darin bverwandt mit Brecht, dem Erfinder des epischen Theaters, dem Überschreiter von Grenzen zwischen Sprech- und Musiktheater, dem nach einer Einheit, nicht einem Nebeneinander Suchenden.

Doch der Vorhang ist noch nicht gehoben, die Bühne verdeckt von einer Wand voller ineinander verschlungener lichtbesetzter Kreise, da ist klar, dies ist zu allererst ein Wilson-Abend. Die weißgeschminkten Gesichter, die artifiziellen Bewegungen zwischen Puppenspiel und Karikatur, zwischen Expressionismus und Groteske, die Schwarz-Weiß-Ästhetik, die zwischen Zwanzigerjahre-Etertainment à la Cabaret und avantgardistischem Stummfilm schwankt: Das ist in erster Linie Wilson und noch lange nicht Brecht.

Und so stammt das Figurenarsenal aus dem Wilsonschen Universum: Karikaturenhafte, eindimensionale Charaktere mit grotesk überzeichneter Gestik, die sich jeglicher Psychologisierung verweigern - da ist Wilson nah bei Brecht. Sie bewegen sich marionettenhaft über die Bühne, die Wilson diesmal vor allem mit Leuchtstäben ausgestattet hat. Verschiebbare Quadrate aus vertikalen und horizontalen Stäben charakterisieren das Reich des Bettlerausstatters Peachum, ein großflächiges Dreieck, das später den Weg freimacht für einen blassblauen Himmel mit Mond, die Zuflucht Mackies und Pollys, ein paar vertikale Stäbe vor schwarzem Grund das Gefängnis.

Überhaupt ist vieles hier düster, weißes Licht auf Scharz die dominierende Farbwahl. Das ist dem Sujet angemessen und bleibt doch bloße Behauptung. Denn natürlich findet Wilson seine grandiosen Tableaus - sei es in der Spelunke der Huren oder in der abschließenden Galgenszene. Zwischendurch wähnt man sich fast im Musical, zu sehr erinnern die Gruppenszenen an die Masseninszenierungen am Broadway. Der Weg von Wilsons Brecht zu Les Misérables ist hier nur noch kurz.

Es gelingt Wilson eben nicht, eine eigene Sprache für sein Stück zu erschaffen, die Verbindung, aber auch Konfrontation visueller Poesie mit der des Textes, wie sie seine Bearbeitung von Shakespeares Sonetten am gleichen Haus zumindest teilweise auszeichnet, sie fehlt hier. Und das liegt vor allem daran, dass Wilson seinen Stil über das Stück stellt und dieses im Wilson-Look ertrinkt. Der sozialkritische Unterbau, der existenzielle Kampf, der immerwährende Konflikt zwischen Arm und Reich, von dem Brecht erzählt, sie gehen in Wilsons Hochglanz-Optik unter. Hier darf nichts arm, schäbig oder schmutzig sein.

Und so bleiben schöne Bilder ohne Botschaft - und kurze Momente, die allesamt den Schauspielern gehören. Stefan Kurts schmierig-stolzer Mackie, Axel Werners naiv-melancholischer Tigerbrown, vor allem àber  Jürgen Holtz' selbstbewusst-herrisch-karikaturesker Peachum bleiben im Gedächtnis. Die Krone gebührt jedoch Angela Winkler, deren Jenny aus der Welt und aus dem Stück gefallen scheint und sie als einzige andeutet, auf welchen Untiefen dieses Stück eigentlich gründet. Für Brecht imagined by Wilson ist das etwas wenig.

November 13, 2010

Corpus. Ein choreografisches Körperprojekt, Deutsches Theater (Junges DT), Berlin (Regie: Gudrun Herrbold, Bettina Tornau)

Zu den Akzenten, die Ulrich Khuon in seiner noch jungen, sicherlich nicht unumstrittenen und keineswegs leichten Amtszeit als Intendant des Deutschen Theaters gesetzt hat, gehört ein erklärter Fokus auf das, was man im Sport Nachwuchsarbeit, in der Wirtschaft Nachwuchsförderung nennen würde. Koproduktionen mit der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" und der Universität der Künste Berlin gehören ebenso dazu wie die umfangreichen und vielfältigen Projekte und Aktivitäten des Jungen DT. Junge Menschen an das Theater heranzuführen, es erlebbar zu machen, im Anschauen wie im Mitwirken, ist das erklärte Ziel dieser Initiative. Dabei geht es nicht um Jugendtheater im klassischen Sinne, auch nicht um Sichtung oder Förderung junger Talente, sondern um gegenseitige Inspiration und Herausforderung, vor allem aber um die Konfrontation der Lebenswirklichkeit Jugendlicher mit dem Theaterbetrieb und umgekehrt, sowie um die Möglichkeit, sich und sein Erleben über das Theater greif- und erlebbar zu machen.

Corpus, ein "choreografisches Körperprojekt", wirkt hierfür fast exemplarisch. Sieben Jugendliche und ein Schauspieler (Bernd Moss) befassen sich in sieben Teilen mit unterschiedlichsten Aspekten der Körperlichkeit nicht nur, aber vor allem junger Menschen. Und als wäre das noch nicht genug Wirklichkeit, zieht man dafür um aus dem Theater in den historischen Robert-Koch-Hörsaal der Charité, einen Ort, an dem sich seit jeher mit dem dem menschlichen Körper beschäftigt wird. Nun also wird hier aus der Theorie Praxis.

Die sieben Kapitel befassen sich jeweils mit einem Aspekt der Körpererfahrung und -empfindung, auch des Körperentdeckens. Da geht es um den Körper im Raum, Körperideale, krankhafte Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, Wünsche an den Körper, den Umgang mit ihm und um Selbstversuche in der Erfahrung fremder Körper und Körpermerkmale. Moss gibt zunächst den Dozenten, später ergreifen die Jugendlichen das Wort, berichten von eigenen Erfahrungen, beziehen auch das Publikum ein, als zu erkundende Körperlichkeiten.

Am Anfang ist ein Sich-Ertasten, eine zaghafte Annäherung an den eigenen Körper und die der anderen, später ein Sich-Selbst-Ausprobieren, noch später eine gegenseitige Körpererfahrung im Sich-Ineinander-Verfangen und -Verknoten. Das ist durchchoreografiert und lässt doch jede Menge Freiraum für die individuelle Entfaltung der Darsteller, für das Zutagetreten eigenständiger Persönlichkeiten. Das Spielenlassen, das eigene Experimentierendürfen - hier ist es nicht nur Behauptung.

Doch es ist nicht alles freundliches Spiel und neugieriges Erkunden - der Körperkult, der Schön- und Schlankheitswahn unserer Gesellschaft, die Diskriminierung jener, die durch das Raster fallen, und ihre Auswirkungen auf junge Menschen - auch das wird thematisiert und ausgespielt.

Am eindrucksvollsten gelingt dies in einer Szene, in der die Jugendlichen über eigene Krankheitserfahrungen berichten. Sie sprechen, ein anderer sagt "Stopp", erhält dadurch das Wort, bis ihn wieder jemand anderes unterbricht und ablöst. Kommt zunächst noch jeder zu Wort, übernimmt nach und nach ein Mädchen mit einer unendlich anmutenden Ärzteodyssee, bis sie allen anderen das Wort entzieht, insistierend, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die anderen, zum Verstummen gezwungen, verlassen einer nach dem anderen den Raum, bis das Mädchen allein ist. Als sich die Tür schließt, verstummt auch sie. Das Leiden am eigenen Körper, so erleben wir hier, führt zu einer Selbstbezogenheit, die die Selbsterfahrung, aber auch die Neugier auf andere ausschließt. Der unsichere, als ungenügend eingestufte, nicht-normierte Körper dreht sich nur noch um sich selbst und seine vermeintliche Unzulänglichkeit. Und erstarrt dabei - die Szene gehört allein dem Wort, die Körper bleiben stumm.

Wer über Theaterprojekte mit Jugendlichen berichtet, zieht sich gern auf den Gemeinplatz der "Spielfreude" zurück, vielleicht auch, um sich den Kriterien kritischer Beurteilung "normaler" Theaterabende entziehen zu können. Hier sei der Begriff jedoch erlaubt, durchzieht den Abend doch eine erfrischende Leidenschaftlichkeit, eine Freude am Spiel, eine Neugier auf Erfahrungen und Erlebnisse - mit dem Theater, aber auch dem Sujet des Projektes. Und dabei istdas Ganze so spannend, vielseitig, einfalls- und abwechslungsreich und geschieht auf so intellektuell hohem Niveau, dass es auch einer "normalen" Beurteilung ohne weiteres standhält. Die Gefahr, bei Themen wie Anorexie und Schlankheitswahn in Klischees zu verfallen, wird mit solcher Frische und Leichtigkeit umschifft, dass man sich am Ende nur darüber ärgert, dass der Abend so kurz ist.

November 11, 2010

Eugene O'Neill: Ein Mond für die Beladenen, Maxim-Gorki-Theater (Gorki Studio), Berlin / Schauspielhaus Bochum (Regie: Armin Petras)

Irgendwann während dieser gut 90 Minuten stehen Anja Schneider und Christian Kuchenbuch auf Stapeln von Sperrhulz-Quadraten, die zuvor die Bühne bedeckt hatten, und tasten sich unsicher an eine Liebeserklärung heran. Halb gelingt sie, halb bleibt sie im Versuch stecken, endet sie im Frage-, nicht im Ausrufezeichen. Es ist der vielleicht einzige Moment wirklicher Nähe, den O'Neill seinem düsteren Stück über Armut und Alkoholismus, vor allem aber über verletzte, seelisch versehrte und verkrüppelte Charaktere erlaubt. In Armin Petras Inszenierung ist dies die einzige Szene, die keine physische Nähe zulässt, ein Zusammensein unmöglich macht. Bei O'Neill wie bei Petras ist den Lebens- und Liebessuchenden von Beginn an der Misserfolg gewiss - es gibt nur, so heißt es schon zu Beginn, diese einzige mondklare Nacht, mehr ist es nicht, das sie teilen können. In dieser kurzen Nähe ist ihre Unmöglichkeit bereits präsent. Ein einfaches Bild - und doch ein äußerst eindringliches.

Leider bleibt es dabei, handelt Petras den Rest des Stücks doch eher holzschnittartig ab. So blendet er den politsischen Unterbau fast komplett aus, ein paar Sentenzen zum Klassenkampf sorgen eher für Belastigung. Es geht hier weniger wie bei O'Neill um den Einbruch existenzieller Ängste in die Privatheit, um tragische Interferenzen beider Sphären - der drohende Verlust der Familienfarm ist hier eher Beiwerk, das der Geschichte der nicht Zueinander-Finden-Könnenden etwas Würze verleiht. Und so irrt Thomas Azenhofer als Vater etwas verloren durch die Szenerie, spielt ein paar Lieder auf der Gitarre, ist aber eher schmückendes Beiwerk. Jim und Josies Geschichte steht im Mittelpunkt, alles andere ist Begleitrauschen.

Das mag als Konzentration aufs Wesentliche gemeint sein, nimmt dem Stück aber viel von seiner Kraft. Denn es ist eben nicht nur eine unmögliche Liebesgeschichte, es ist auch ein Kampf der großen Gegensätze - arm und reich, korrupt und ehrlich, mächtig und machtlos. All dies geht über weite Strecken unter, ebenso wie Jims persönliche Traumata. Der "wandelnde Tote", als der er bei O'Neill erscheint, ist er hier nicht, dazu ist er zu sehr Karikatur.

Und doch driftet er Abend nie ganz in Langeweile und völlige Belanglosigkeit ab - und das verdankt er Anja Schneider. Wie sie vom grenzdebilen groben Bauerntrampel zur desillusionierten Pragmatikerin wird, wie sie zwischen Verzweiflung und Hoffnung wechselt und sich am Ende der Wahrheit stellt, ohne Beschönigung, ohne sich ihr zu entziehen, ist faszinierend zu beobachten. In seinen besten Momenten ist Petras O'Neill spannendes Schauspielertheater. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

November 02, 2010

Falk Richter / Anouk van Dijk: Protect Me, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Falk Richter und Anouk van Dijk)

"Are ever alive or are we just special effects?" Die Frage stellt Anouk van Dijk gegen Ende des zweistündigen Abends - er könnte auch als Motto über diesem stehen. Vor einem Jahr verhandelten der Autor/Regisseur und die Choreografin/Tänzerin in ihrer gemeinsamen Arbeit Trust an gleicher Stelle die Bankenkrise und ihre Auswirkungen - diesmal ist es nicht weniger als die Krise des (post)modernen Menschen.

Dafür hat Richter diesmal eine Art Rahmenhandlung erfunden - ein nicht mehr ganz junger "Nachwuchs"-Autor, natürlich ein Alter Ego Richters - ob es auch ein Selbstportrait ist, sei dahingestellt - auf der Suche nach einem Titel für sein Stück. Und das namenlose Stück ist es, was Richter und van Dijk auf die Bühne bringen. Dabei ist die Namenssuche des Autors natürlich eine Metapher: Es geht um Sinnsuchen, für das eigene Leben, die Gesellschaft als ganzes, Beziehungen. Vor allem aber verschiebt sich gegenüber Trustder Fokus: Stand dort noch das gesellschaftliche, politische im Vordergrund, geht es diesmal mehr um das Private, Persönliche.

Und so ist der Abend einer der Suche, spielen Regisseur und Choreografin Szenarien durch, Versuchsanordnungen, Modelle vermeintlicher Sinnstiftung. Einen gewollt fragmentarischen Charakter verleiht das dem Stück, ganz im Sinne der immer ratloseren Suche des Autors nach einem Titel.

Und was da alles verhandelt wird: Beziehungsunfähige Menschen, schon überfordert mit der Gesellschaft des eigenen Ichs, ganz zu schweigen von der anderer, Vater-Sohn-Beziehungen zwischen hilfloser Liebe und verzweifeltem Einander-Verletzen, "gedemütigte Praktikantenfressen" vor dem Aufstand der nie stattfindet, menschliche Beziehungen, die den gleichen Gestzen gehorchen wie der "Markt". Richter und van Dijk lassen "fast" nichts aus und entwerfen ein meist spannendes Panorama einer Gesellschaft, die ihren Halt verloren hat. Das ist berührend wie in den sprachlosen Vater-Sohn-Szenen zwischen Erhard Marggraf und Kay Bartholomäus Schulze, es kann aber auch sehr komisch sein, wenn etwa Judith Rosmair und Anouk van Dijk einer Praktikantin ihr ganzes Leben überstülpen wollen.

Wenn es so etwas wie einen roten Faden gibt, Themen, die den Abend durchziehen, dann sind es Vereinsamung und Bindungslosigkeit auf der einen und Sprachlosigkeit auf der anderen Seiten. Für beide finden sich durchaus eindringliche Bilder. Da sind Tanszenen zwischen Anziehung und Abstoßung, in denen die Momente der Einswerden miteinander so nachdrücklich wirken, eben weil sie so kurz sind, oder Menschen, die sich immer wieder in die drei Glascontainer zurückziehen, die Katrin Hoffmann auf die ansonsten sehr sparsam gestaltete Bühne gestellt hat und in denen sich Körper suchen, finden, wieder verlieren.

Überhaupt die Körperlichkeit: Immer wieder betrachten und betasten Schauspieler wie Tänzer den eigenen Körper, unsicher, ungläubig, neugierig, fragend, ob das, was sie da an sich vorfinden, sie sind, und was sie damit anfangen sollen.

Gelungen ist vor allem aber die Darstellung von Sprachlosigkeit als Ausdruck des Sich-Verlierens oder des Sich-Nicht-Finden-Könnens. Sprache heißt, zu sich selbst zu kommen, der Fremdbestimmung zu entfliehen, durch gesellschaft, Familie oder auch Coaches und Therapeuten, die einem erklären wllen, wer man ist. Dabe geht es doch darum, dies selbst entscheiden zu wollen, wie Luise Wolfram, die sich immer wieder zu einem Mikrofon vorkämpft, nur um nach wenigen Worten wieder weggezerrt zu werden. das Mikrofon, es ist hier Symbol der Menschwerdung, der Stimmfindung, der Individualisierung. Hier kommen die Figuren zu sich, hier können sie nicht nur mitteilen, wer sie sind, hier können sie es in der Mitteilung erst erfahren, vielleicht sogar es erst werden.

Und dieses Sich-Finden ist schwer, wie in Wolframs Szene, fast unmöglich. So kopmmt manch einer zum Mikrofon und bleibt doch stumm. Oder da ist die Eingangsszene,. in der Darsteller immer wieder sich aufrichten und an den Bühnenrand, zum mikrofon vortasten, nur um von einer unsichtbaen Kraft umgeworfen und zurückgestoßen zu werden, in einem immer intensiver und verzweifelter werdenden Kampf. Ein Bild, das seine Wirkung nicht verfehlt.

Und doch fehlt dem Abend die Intensität von Trust, und das liegt vor allem daran, dass hier das Zusammenspiel von Sprech- und Tanztheater, von Text und Bewegung nicht so selbstverständlich funktioniert wie im Vorgänger-Stück. Gingen die beiden Darstellungsarten dort wie natürlich ineinander über und auseinander hervor, bildeten sie dort eine Einheit oder arbeiteten sich aneinander ab, stehen sie hier meist nebeneinander, von einander getrennt. es wird gesprochen oder getanzt, es regiert der Text oder die Bewegung, aber es gibt keine Symbiose beider. Und so setzt sich der fragmentarische Charakter des Abends auch hier fort, ohne jedoch zur Sinnstiftung beizutragen. Am Ende bleibt ein anregendes Stück Theater, das aber noch mehr hergegeben hätte.