November 13, 2010

Corpus. Ein choreografisches Körperprojekt, Deutsches Theater (Junges DT), Berlin (Regie: Gudrun Herrbold, Bettina Tornau)

Zu den Akzenten, die Ulrich Khuon in seiner noch jungen, sicherlich nicht unumstrittenen und keineswegs leichten Amtszeit als Intendant des Deutschen Theaters gesetzt hat, gehört ein erklärter Fokus auf das, was man im Sport Nachwuchsarbeit, in der Wirtschaft Nachwuchsförderung nennen würde. Koproduktionen mit der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" und der Universität der Künste Berlin gehören ebenso dazu wie die umfangreichen und vielfältigen Projekte und Aktivitäten des Jungen DT. Junge Menschen an das Theater heranzuführen, es erlebbar zu machen, im Anschauen wie im Mitwirken, ist das erklärte Ziel dieser Initiative. Dabei geht es nicht um Jugendtheater im klassischen Sinne, auch nicht um Sichtung oder Förderung junger Talente, sondern um gegenseitige Inspiration und Herausforderung, vor allem aber um die Konfrontation der Lebenswirklichkeit Jugendlicher mit dem Theaterbetrieb und umgekehrt, sowie um die Möglichkeit, sich und sein Erleben über das Theater greif- und erlebbar zu machen.

Corpus, ein "choreografisches Körperprojekt", wirkt hierfür fast exemplarisch. Sieben Jugendliche und ein Schauspieler (Bernd Moss) befassen sich in sieben Teilen mit unterschiedlichsten Aspekten der Körperlichkeit nicht nur, aber vor allem junger Menschen. Und als wäre das noch nicht genug Wirklichkeit, zieht man dafür um aus dem Theater in den historischen Robert-Koch-Hörsaal der Charité, einen Ort, an dem sich seit jeher mit dem dem menschlichen Körper beschäftigt wird. Nun also wird hier aus der Theorie Praxis.

Die sieben Kapitel befassen sich jeweils mit einem Aspekt der Körpererfahrung und -empfindung, auch des Körperentdeckens. Da geht es um den Körper im Raum, Körperideale, krankhafte Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, Wünsche an den Körper, den Umgang mit ihm und um Selbstversuche in der Erfahrung fremder Körper und Körpermerkmale. Moss gibt zunächst den Dozenten, später ergreifen die Jugendlichen das Wort, berichten von eigenen Erfahrungen, beziehen auch das Publikum ein, als zu erkundende Körperlichkeiten.

Am Anfang ist ein Sich-Ertasten, eine zaghafte Annäherung an den eigenen Körper und die der anderen, später ein Sich-Selbst-Ausprobieren, noch später eine gegenseitige Körpererfahrung im Sich-Ineinander-Verfangen und -Verknoten. Das ist durchchoreografiert und lässt doch jede Menge Freiraum für die individuelle Entfaltung der Darsteller, für das Zutagetreten eigenständiger Persönlichkeiten. Das Spielenlassen, das eigene Experimentierendürfen - hier ist es nicht nur Behauptung.

Doch es ist nicht alles freundliches Spiel und neugieriges Erkunden - der Körperkult, der Schön- und Schlankheitswahn unserer Gesellschaft, die Diskriminierung jener, die durch das Raster fallen, und ihre Auswirkungen auf junge Menschen - auch das wird thematisiert und ausgespielt.

Am eindrucksvollsten gelingt dies in einer Szene, in der die Jugendlichen über eigene Krankheitserfahrungen berichten. Sie sprechen, ein anderer sagt "Stopp", erhält dadurch das Wort, bis ihn wieder jemand anderes unterbricht und ablöst. Kommt zunächst noch jeder zu Wort, übernimmt nach und nach ein Mädchen mit einer unendlich anmutenden Ärzteodyssee, bis sie allen anderen das Wort entzieht, insistierend, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die anderen, zum Verstummen gezwungen, verlassen einer nach dem anderen den Raum, bis das Mädchen allein ist. Als sich die Tür schließt, verstummt auch sie. Das Leiden am eigenen Körper, so erleben wir hier, führt zu einer Selbstbezogenheit, die die Selbsterfahrung, aber auch die Neugier auf andere ausschließt. Der unsichere, als ungenügend eingestufte, nicht-normierte Körper dreht sich nur noch um sich selbst und seine vermeintliche Unzulänglichkeit. Und erstarrt dabei - die Szene gehört allein dem Wort, die Körper bleiben stumm.

Wer über Theaterprojekte mit Jugendlichen berichtet, zieht sich gern auf den Gemeinplatz der "Spielfreude" zurück, vielleicht auch, um sich den Kriterien kritischer Beurteilung "normaler" Theaterabende entziehen zu können. Hier sei der Begriff jedoch erlaubt, durchzieht den Abend doch eine erfrischende Leidenschaftlichkeit, eine Freude am Spiel, eine Neugier auf Erfahrungen und Erlebnisse - mit dem Theater, aber auch dem Sujet des Projektes. Und dabei istdas Ganze so spannend, vielseitig, einfalls- und abwechslungsreich und geschieht auf so intellektuell hohem Niveau, dass es auch einer "normalen" Beurteilung ohne weiteres standhält. Die Gefahr, bei Themen wie Anorexie und Schlankheitswahn in Klischees zu verfallen, wird mit solcher Frische und Leichtigkeit umschifft, dass man sich am Ende nur darüber ärgert, dass der Abend so kurz ist.

No comments:

Post a Comment